Digitalisierung und Bilder von Kirche: 5. Das Verschwinden der Präsenz

      

Es war Dietrich Bonhoeffer, der hier mit seiner Redeweise von „Christus als Gemeinde existierend“ schon etwas erahnte: eine prekäre Präsenz. Was aber, wenn diese „Gemeinde“ nicht mehr im klassischen Sinne „präsent“ im Sinne physischer Anwesenheit, ist, sondern eben „virtuell“, was wenn sie gar kein wirkliches „physisches“, oder wie es in der Sprache der Digitalisierung heißt, „kohlenstoffliches“ Äquivalent mehr hat?  Es ist eine technische Entwicklung, die uns hier vor fundamentale Fragen stellt, wie eine „Kultur der Digitalität“ für Kirche aussehen kann und was das mit unserem Begriff von „Kirche“ macht. Das geht über den immer noch recht substanzhaft gedachten „Hybrid“ weit hinaus.

Es waren vor allem die Philosophie, die Soziologie und die Wissenschaftstheorie, die im vergangenen Jahrhundert diesem Phänomen des Verschwindens der Präsenz auf der Spur waren. Weit davon entfernt, mich hier auch nur ansatzweise auszukennen, möchte ich im Folgenden einige Begriffe anbieten, die mir in den letzten Jahrzehnten sehr geholfen haben, zu verstehen, was der Fall ist. Die Suche nach einer „Neuen Sprache“, die allenthalben gefordert wird, ist zuerst eine Suche nach einem neuen Denken und neuen Bildern.

Anbieten – den Begriff habe ich mit Bedacht gewählt. Denn die Verflüssigung der Begriffe durch die Abwesenheit einer naiven Vorstellung von Präsenz verunmöglicht natürlich auch, „gültige“ Definitionen auch nur erstellen zu wollen. Stattdessen biete ich Bilder und Konstrukte an, die Elemente des Prozesses erhellen mögen, in dem wir uns befinden und auf den wir genau deswegen immer nur eine Innenperspektive haben (weil es kein „Außen“ gibt – auch dieser Dual zeigt sich als wenig hilfreich). Im Grunde ist es der Versuch, anders von Kirche zu erzählen. Denn Theologie kann letztlich kein System von Wahrheiten, Richtigkeiten und „Dogmen“ sein, auch nicht in der Rede von Kirche. Denn auf ihrem Grund wirkt ja nicht eine Philosophie oder eine empirische, durch Erfahrung, Experiment und Verifikation gewonnene Erkenntnis, die in ein logisches und argumentativ entwickelndes System von eingrenzenden Begriffen gebracht werden kann, sondern eine Erzählung, die in ihrem wirklichkeitserschließenden und – Achtung! – wirklichkeitserfindenden Charakter in jedem Akt des Nacherzählens aufs Neue zu Disposition steht. Das verleiht der Theologie, und auch hier ist da und dort vielleicht ein Abschied von liebgewordenen Vorstellungen nötig – ein poetisches Element und ein Zug von „Schwäche“ gegenüber anderen Denkformen und Lebensweisen. Der Philosoph Peter Sloterdijk, dem man sicher nicht in allem wird folgen wollen, hat unlängst auf den „theopoetischen[“ Charakter von Religion aufmerksam gemacht und die traditionelle „argumentative“ Theologie damit sehr in Frage gestellt. Und das hat Auswirkungen bis hin zum Gottesbegriff: auch hier wird er Abschied von der Metaphysik durch das Einschalten des Computers zum Ernstfall, um es mal ein wenig aphoristisch zu beschreiben. Bultmanns Diktum, dass elektrischer Strom und Metaphysik (wie er den Mythos verstand) nicht zusammengehen, gewinnt jetzt überhaupt erst an echter Plausibilität und wird selbst für Konfirmandinnen erfahrbar, auch dann, wenn sie es nicht formulieren können. Konfirmandenunterricht auf rein digitalem Wege war eine grundlegend neue Erfahrung für alle, die sich ihr ausgesetzt haben, auch wenn sie nicht begrifflich erfasst werden kann. Es erreicht sie dann als eine Beunruhigung. Spaltet man die Technisierung aber mental ab, wird man schizophren, und so war die Zwei Reiche-Lehre nie gemeint. Technisierung der Kommunikation und der Kollaboration ist ein Element von Kirche geworden, wenn nicht sogar ihr Nervensystem, um das vertraute Bild von der Kirche als Leib einmal aufzunehmen. 

Und unter Umständen ist genau das der mögliche Beitrag der Theologie zur „Digitalen Transformation“ auch für andere gesellschaftliche Bereiche, wenn man denn schon meint, nach ihrer Relevanz fragen zu müssen. Der vorwiegend ethische Zugang zu dieser Frage („10 Gebote der Digitalisierung“) greift hier ebenso zu kurz wie ein bloß organisationaler (Reformprozess). Wobei beide, ganz dekonstruktivistisch gedacht, ihr Recht haben, wenn sie wissen, was sie tun. Aber Theologie ist mehr als Moral und Kirchentheorie. Sie ist auch eine wirklichkeitserschließende Konstruktion (!) von Wirklichkeit, eine kontrakulturelle Erzählung auf der Basis der Erfahrung des „Anderen“: Jesus Christus.

Wobei „kontrakulturell“ (ein Begriff, der in der missionalen Theologie eine wesentliche Rolle spielt, David J. Bosch) eben gerade nicht Verweigerung oder Umarmung von Kultur bedeutet, sondern Auseinandersetzung. Die Frage nach der „Kultur der Digitalität“, wie die Stalder exemplarisch entwickelt hat, wird daher am Anfang meiner Überlegungen stehen. Sie hat, kombiniert mit einem Modell digitaler Kirche von Heidi Campbell, für „Kirche“ noch ein paar Besonderheiten gegenüber den gesellschaftlichen Prozessen zu vermelden: Theologie ist ja niemals „autopoetisch“, rein systemisch-selbstbezüglich. Sie ist „sympoeitisch“, und damit ist ein weiterer Begriff genannt, dem ich viel Einsicht verdanke (Donna Haraway). Sympoiesis meint einen Prozess, der in der Interaktion von Akteuren (menschlichen und nicht-menschlichen) ein System konstituiert und stabilisiert, und damit die Strenge Innen-Außen-Differenz der klassischen Systemtheorie um einen Aspekt ergänzt. Das ist gegenüber dem Autismus einer reinen „autopoesis“ für die Theologie insofern ein brauchbarer Begriff, als dass er das ganze der „Schöpfung“ und nicht nur das ganze der "Welt" in den Blick bekommt - ohne die beiden nur wieder dualistische auseinanderzureissen.  

Ich nehme Bilder vom „Gefüge“ (Nicolai Hartmann), vom „Rhizom“ (Gilles Deleuze, Felix Guattari) vom „Mycel“ auf, und den Gedanken des „gleitenden Signifikanten“ und der „Durchstreichung“ (Kirche ist Kirche) (Jacques Derrida), die mir allesamt sowohl in meiner pfarramtlichen als auch in meiner organisationalen Tätigkeit geholfen haben – und die, das war meine verblüffende Entdeckung - nur auf den ersten Blick nicht „biblisch“ sind. Es gab in der Tradition der Christenheit immer schon die andere Spur, die Spur der Verflüssigung, der Diversität und der Ungleichzeitigkeit. Diese Begriffe sind mir wertvolle Werkzeuge geworden, die sich im praktischen Gebrauch bewährt haben, weil sie mir halfen, nicht ein einfache Duale oder lineare Denkfiguren zu verfallen, ohne in der Technizität der Systemtheorie steckenzubleiben. Es sind "organische Metaphern", die, was für eine protestantische Theologie ja von Bedeutung ist, durchaus biblisch fundiert sind, wie sich zeigen wird. Die Aufgabe lautet, den technikbasierten Prozess der Digitalisierung mit organischen, wachstums- und wucherungsorientieren, Begriffen zu erfassen, der das spezifische Element der Unsteuerbarkeit, die digitalen Prozessen eigen ist, vor allem, wenn sie sich überlagen, zum Vorschein bringt. Und damit eine Falte, eine Ritze, einen Spalt öffnet, in dem "Anderes" sichtbar wird. Mal ganz provokant gesagt: Wo ist Gott in der Technik? Die Frage ist ja schon für die "Natur" nicht einfach zu beantworten. 

Dass ich hierbei gelegentlich ins Stammeln geraten kann oder die Rede kryptisch wirkt, ist für mich  erst einmal kein Manko, sondern zeigt die Aufgabe an: Komplexität eben nicht zu reduzieren, sondern sichtbar zu machen, zu halten und kommunizierbar zu machen. Das radikal Andere und Neue kann nur in der alten Sprache so ausgedrückt werden, dass durch ihre Risse, ihre „Durchstreichung“ etwas hörbar wird, was dann tatsächlich unsichtbar ist, aber nicht bloß virtuell. An die Stelle von „Regierung“ treten dann Konsultation, Begleitung, mutuum colloquium, Spiel und Scheitern, Ermöglichung und Begrenzung, in denen auch der alte Dual von Revolution und Evolution hinfällig wird und das alte Wort „Reformation“ vielleicht noch einmal eine neue Valenz bekommt: das, was immer schon geschehen ist, wenn wir es benennen und immer schon geschieht, wenn wir nicht darauf starren: Ein poetischer Prozess, der gegenwärtig werden lässt, was sich zugleich entzieht. Kirche "verschwindet" ja nicht. Aber unsere Wahrnehmung von Präsenz ändert sich unter der digitalen Transformation: sie gerät ins Gleiten. Ist es nicht das, was die traditionelle Theologie gerade in der Reflektion der Sakramente zu erfassen sucht: prekäre Präsenz? Die Digitalisierung stellt auch hier ganz neue Fragen, wie die einschlägigen Diskussionen um das "digitale Abendmahl" doch sehr deutlich zeigten. 
Digitalisierung ist auch der Kirche nicht Äußerlich und "bloß akzidentiell".