Digitalisierung und Bilder von Kirche: 4. Theologie, Kirche und Technik

 

Und tatsächlich geht es genau darum: Um Einstellungsveränderung. Jeder, der ein wenig mit Organisationstheorie, Erziehung oder überhaupt mit allgemeiner Lebenserfahrung vertraut ist, wird wissen, dass dies das Allerschwerste ist, das mit einer Flucht in die Praxis oder der Theorie, je nach Gestimmtheit, gerade nicht geleistet werden kann. Und das gilt allemal, wenn es um so einen fundamentalen Begriff wie den der Präsenz, der Gegenwärtigkeit, der erfahrbaren Existenz im Hier und Jetzt geht. An die Stelle von „Definitionen“ müssen unabschließbare Aushandlungsprozesse treten, die auf Geschichten basieren. Dafür hat sich seit Jahrzehnten der Begriff des „Diskurses“ etabliert, der aber für Kirche an einer Stelle zu kurz greift, wenn er als bloß definitorischer Vorgang verstanden wird, an dessen Ende ein Begriff steht: Erzählen ist eine fundamentale Praxis der Theologie (und, wie ich denke, jedes gesellschaftlichen Prozesses), denn nur Erzählungen können Duale (unter denen sich eine vermeintliche Präsenz von „widersprüchlichen“ Tatsachen verbirgt) verflüssigen. Das hat Auswirkungen auf das Verständnis von Wahrheit. Sie ist nicht einfach „da“. Und auch hier gilt: Was in der akademisch-abstrakten Debatte schon lange trivial ist, kann in einer Kirchenvorstandssitzung zu fast unüberwindlichen Konflikten führen (zumal Fundamentalismen aller Art ja eine Antwort darauf sind). Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einem Kommunalpolitiker, der geradezu aggressiv darauf reagierte, dass ich ihm, befragt nach meiner damaligen Beschäftigung als Referent im Büro des Bischofs, die Kirche als Organisation vor Augen führte. Das widersprach zutiefst seiner Vorstellung von Kirche als einer Institution des Heiligen, die mit Konnotationen von Reinheit und Ursprünglichkeit verknüpft sind, die dringend einer Dekonstruktion bedürfen, damit sie wieder brauchbar werden. 

Ein anders Feld, wo das extrem spürbar wird, ist die Debatte um sexuelle Gewalt, deren erhebliches Konfliktpotential auch in metaphysisch-mythischen Vorstellungen von Kirche begründet ist, weswegen Verweise auf andere gesellschaftliche Institutionen mit dem Problem nicht nur nicht verfangen, sondern eher die Diskussion verschärfen, abgesehen vom Whataboutism dieser Argumentation. Auch hier hat die digitale Öffentlichkeit etwas beschleunigt, was in vor-digitalen Zeiten institutionell (also letztlich verborgen) geregelt wurde. Mit bekanntem Erfolg.

Es braucht nicht viel theologische Sensibilität, um zu erkennen, wie tiefgreifend die Erfahrung der Aufhebung der „Präsenz“ durch die digitale Transformation für einen Begriff von „Kirche“ ist – und zwar sowohl als Organisation (z.B. das Homeoffice und die Verlagerung der Unterscheidung von operativer, strategischer und normativer Organisation auf jeder „Ebene“, sofern man davon dann überhaupt noch sprechen kann), von Institution (hier sind vor allem der Gottesdienst und die öffentliche Theologie im Blick) und von „Bewegung“ (und mit ihr die Frage der Mitgliedschaft und dem, was Gemeinde ausmacht). Theologisch reicht das bis hin zur Frage, wie wir die Präsenz Gottes denken können, wenn mit der Digitalisierung ein Raum eröffnet wird, der in der traditionellen Theologie so gut wie gar nicht (und wenn, dann an so einem exotischen Ort wie der Engellehre) verhandelt wird: die Virtualität, der aber ein zutiefst technischer Raum ist und kein metaphysisches Wolkenkuckusheim.

Theologie und Religion sind ohne Technik, ohne digitale Technik im Besonderen, nicht mehr denkbar (das hielt der Philosoph Jacques Derrida schon 1996 in einem grundlegenden Vortrag über Religion fest, dazu später mehr!). Dass das spezifische Widerstände erzeugt, liegt auf der Hand. Denn der virtuelle Raum ist auf eine Weise ungreifbar, die seine Organisierbarkeit und damit seine Steuerbarkeit massiv in Frage stellt. Es kommt ein Element des (scheinbar!) Chaotischen und Instabilen in die Rede von „Kirche“ hinein, die für mich eine dringliche Denkaufgabe darstellt. Felix Stalder hat das in seiner Buch über die "Kultur der Digitalität" unter dem Begriff der "Referentialität" sehr gut erfasst, auch dazu später mehr.  Denn, wieder sehr vereinfacht gesagt, die klassischen Organisations- und Kommunikationsformen verflüssigen sich. Der Prozess der „schwindenden Kirche“ ist eben nicht nur mit der Bevölkerungsentwicklung, der „Säkularisierung“ oder der funktionalen Ausdifferenzierung oder gar mit dem Teufel erklärbar. Er hat sehr viel, und in meinen Augen, sehr substantiell, etwas mit dem Prozess der Digitalisierung zu tun. Armin Nassehi, um hier schon einmal einen weiteren Gewährsmann zu nennen, hebt hervor, dass dieser Prozess nicht erst mit dem Aufkommen des Computers einsetzte, sondern als Muster schon spätestens seit dem Aufkommen des Buchdruckes vorgegeben war. Er ist so neu nicht, wie man gerne denkt. Nur die Geschwindigkeit hat sich erhöht, so, als würde ein geologischer Prozess, den wir wegen seiner Langsamkeit nicht wahrnehmen, plötzlich vor unseren Augen stattfinden (geologische Metaphern werden uns noch beschäftigen). Es ist die hohe Technisierung der Digitalisierung, die wir jetzt spüren. Und wieder zeigt sich: Theologie ohne Technik zu denken, wird dem nicht gerecht, was vorgeht. Technik ist, was uns als Welt begegnet - ein noch so ergreifender Naturfilm ist immer noch ein Ansammlung von Pixeln. Die digitale Transformation stellt, als Beschleunigung der Technisierung des Lebens, einen mindestens so starken „Impact“ für die Theologie statt, wie die Evolutionstheorie oder die Nach-Newtonsche Physik.