Digitalisierung und Bilder von Kirche: 1. Digitale Transformation


Wenn eine Institution verschwindet, sich auflöst und an Bedeutung verliert, wird sie als Organisation sichtbar. Denn mit einem Mal wird öffentlich und drängt sich in den Vordergrund, was bei einer Institution definitionsgemäß im Hintergrund, in einer gewissen Unsichtbarkeit und Verborgenheit geschieht. 

Noch in meiner Anfangszeit, in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts, war selbst engagierten Kirchenmitgliedern die Kirche als Organisation kaum sichtbar. Der Dekan trat auf, wenn es Konflikte gab oder eine Pfarrstelle besetzt wurde. Der Bischof war ein ferner Repräsentant, allenfalls die Synoden waren der Ort, wo „normale Kirchenmitglieder“, aber auch professionelles Personal, mit „solchen Fragen“ befasst war. Das hat sich sehr grundlegend geändert. Das Stöhnen über das „Überhandnehmen von Verwaltung“ ist in Wahrheit ein Sichtbarwerden von Organisation, die bis vor Kurzem (kirchenhistorisch gedacht) eher ein Hintergrundrauschen war. Jetzt ist es vorne und wird als Störgeräusch wahrgenommen, die Befassung mit solchen Fragen hat immer noch den Zug des „Uneigentlichen“, was sich wiederum in der Frage nach dem „Kerngeschäft“ niederschlägt. Wie aber, wenn diese Differenz schlicht falsch ist? Und wie, wenn die Ursache dafür eben nicht nur in den schwindenden Ressourcen zu finden ist, sondern in einem Transformationsprozess, der sehr viel umfassender ist? 

Als solcher stellt sich mir die „Digitale Transformation“ dar.

Das ist, was ich seit einigen Jahrzehnten bei „Kirche“ sehr deutlich wahrnehme. Indiz dafür ist das vermehrte Aufkommen von Mitgliederbefragungen, von „Reformprozessen“ und der zunehmenden Bedeutung von organisationalen Denkmustern in der Kirche. Da geht es der „Kirche“ (ich verwende einstweilen diesen Singular, ich werde noch deutlich machen, warum ich schon darin ein Problem sehe) nicht anders als z. B. der Institution Schule oder – in manch verblüffender Weise analog zu den Prozessen in der Kirche – dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk.

Die Frage nach den Ursachen der Veränderungen, die zumeist eher als negativ wahrgenommen werden, führt zu Fragen nach Schuldigen, nach der Tauglichkeit von Strukturen, nach Entscheidungswegen und Entscheidungsmöglichkeiten, nach Ressourcenverwendung, als wäre die Aufgabe damit zu lösen, mit einem Ursache-Wirkung Modell zu bewältigen und mit einer bereinigten Theologie zu lösen. 

Parallel dazu, oder besser: als das Andere desselben Prozesses, steigt die Nachfrage nach Partizipation, nach Gleichberechtigung, nach „flacher Hierarchie“ (und damit nach der Notwendigkeit von Hierarchie überhaupt, eine alte Frage der Theologie) und nach Verteilungsgerechtigkeit. Das betrifft vor allem Ressourcen, und zwar vor allem dann, wenn die Veränderungen vornehmlich als Schwinden von Ressourcen wahrgenommen werden. Dabei meint "Ressource" nicht nur Geld (das aber vor allen Dingen, auch wenn das bei Kirche ein ganz besonders Thema ist), sondern auch Personen, öffentliche Aufmerksamkeit und „Relevanz“, kulturelles Kapital.

Ich möchte mich dieser Entwicklung unter einer ganz bestimmten Perspektive zuwenden. Denn merkwürdigerweise wird, soweit ich es überblicke, bei der „Ursachenforschung“ der Prozess kaum oder meines Erachtens zu wenig berücksichtigt, der unter dem Label „digitale Transformation“ seit rund drei Jahrzehnten, und verstärkt in den letzten 10 Jahren verhandelt wird. Die Corona-Krise hat das noch befeuert, weil gerade die Kirche (und, um die Analogie aufzunehmen: auch die Schule) fast schon schockartig auf Defizite auf diesem Gebiet aufmerksam gemacht wurde, zugleich aber in einem förmlichen Ausbruch von Kreativität hier nachgeholt hat, was jahrelang weniger im Fokus der Aufmerksamkeit lag. War „digitale Kirche“ oder „Kirche digital“ bis 2019 das Thema von ein paar Avantgardisten und Spezialistinnen, rückte es plötzlich in den Mittelpunkt.

Das betrifft natürlich in erster Linie den Umgang mit den sozialen Medien, weil die im Fokus der Aufmerksamkeit stehen. Sie erzeugen eine „neue“ Unübersichtlichkeit und, wie wir in letzter Zeit besonders stark erfahren, eine „große Gereiztheit“ (B. Pörksen), die den öffentlichen Diskurs massiv verändert hat. Jeder und Jede ist im Prinzip nun in der Lage, „content“, also „Inhalte“ zu erzeugen, am Diskurs teilzunehmen, auf seine Weise „Evangelium zu kommunizieren“ oder zu „teilen“, es entstehen Gruppen und „Formationen“ (Felix Stalder), die sich dem traditionellen Zugriff einer Organisation (und allemal einer Institution) entziehen. Das sorgt für Beunruhigung auf der einen Seite, weil das traditionelle Verkündigungsmonopol der „Kirche“ massiv in Frage gestellt wird, zum andern aber für Euphorie, weil (scheinbar oder anscheinend) das „allgemeine Priestertum aller Gläubigen (oder Getauften)“ nun auf eine neue Stufe der Verwirklichung gehoben werden könnte. Die gesellschaftliche Veränderung dieses Teils der digitalen Transformation ist allenthalben sichtbar und hat ja auch die politische Landschaft massiv verändert.

Das ist aber eine Verengung der Perspektive. Es geht nicht nur darum „etwas mit dem Internet“ zu machen, das neben den anderen Formen kirchlichen Handelns steht und gegebenenfalls an Kundige oder solche, die dafür gehalten werden, ausgelagert werden kann. Das hat die Corona-Pandemie, vor alle der erste Lockdown, schmerzlich zu spüren gegeben. Es geht um eine Veränderung der Lebenswelt, die vor allem eine Veränderung der Arbeitswelt ist. Hier kommt die Kirche als Organisation in den Blick. 

„Digitale Transformation“ betrifft Organisationen in ihrem organisationalen Kern. Denn die Möglichkeiten der „digitalen Kollaboration“ verändert auch die Arbeitskultur in einschneidender Weise, und für mich stellt sich dieser Aspekt sogar als die eigentliche Herausforderung dar. Denn hier findet die eigentliche „Disruption“ statt: Das „Homeoffice“ ist nur ein Aspekt davon, aber ein nicht ganz unwesentlicher, an ihm wird nur einiges davon sehr deutlich - vor allem auch das veränderte Verständnis von Präsenz. Auch wenn der Begriff der „digitalen Disruption“ von seiner Herkunft her nicht wirklich passt, um zu beschreiben, was gerade geschieht (weil er aus der Ökonomie stammt und ein Markgeschehen beschreibt), so erfasst er doch den revolutionären Charakter der Veränderung in einer Organisation und mag als Metapher taugen. Denn die „digitale Disruption“ stellt die klassischen Vorstellungen von Organisationen als baumartige Konstrukte, als Entscheidungs- und Verteilungs- und Kommunikationshierarchien substanziell in Frage, und dieses Bild ist noch stark in der Kirche, wenn mich meine Erfahrung nicht täuscht. Und selbst der Begriff des "Netzwerkes" ist, allein schon wegen seiner letztlich technischen Codierung, noch zu starr, um zu erfassen, was Digitalisierung gerade für eine Organisation wie die Kirche bedeutet. Die Frage nach der Organisation der Kirche ist auch in einer protestantischen Kirche nur scheinbar ein Adiaphoron. Die Vorstellungen, die ich davon habe, was Kirche soll, kann, darf und will schlägt sich natürlich auch in der Art nieder, wie sie sich organisiert - und umgekehrt. Darum geht es in diesem Blog darum, solche Bilder in den Blick zu bekommen.