Digitalisierung und Bilder von Kirche 9: Felix Stalder, Gemeinschaftlichkeit

Gemeinschaftlichkeit

Diese Formationen entstehen durch die Prozesse der Auswahl, Interpretation und konstituierender Handlungsfähigkeit (die aus der Rekombination von Bekanntem neu freigesetzt wird). Denn: „Sich als einzelner in einer komplexen Umwelt zu bewegen ist unmöglich“ (Stalder, 129).

In der Sprache der social media sind das die „Communities“, die um ein Thema, eine gemeinsame geteilte Haltung oder eine gemeinsame Praxis entstehen und Akteure zusammenführen, die im „real life“, in der „Kohlenstoffwelt“, im „analogen Raum“ möglicherweise nie aufeinandergetroffen wären. Dabei handelt jeder Akteur zwar als Individuum, ja sogar als „Singularität“, aber in einer Art und Weise vernetzt, dass eben doch überindividuelle Konstrukte entstehen, aus denen Individualität via Zugehörigkeit und Abgrenzungen (sozusagen als singulärer Rest) entstehen. Das ist, was ich weiter oben unter einer anderen Perspektive „Sympoiesis“ nannte, wenn man noch die nicht-menschlichen Akteure (z.B. Gebäude, Glocken, Vasa sacra, oder, seit einige Zeit wieder vermehrt Thema, klerikale Kleidung etc.) dazurechnet.

Die klassischen Gruppenzugehörigkeiten lösen sich damit auf bzw. die neuen gemeinschaftlichen Formationen treten daneben und überlagern sie.

"Seit bald fünfzig Jahren lässt sich beobachten, dass die traditionellen das heißt hierarchisch-bürokratisch organisierten zivilgesellschaftlichen Institutionen…..aller Art kontinuierlich an Mitgliedern verlieren. Parallel dazu geht die Verbindlichkeit der von ihnen geprägten Identitäten, Familienbilder und Lebensläufe zurück. Die großen Mechanismen der Vergesellschaftung aus der Spätphase der Gutenberg-Galaxis verlieren immer mehr an Einfluss…" (Stalder 129).

Das kann man vor allem im politischen Bereich sehr gut erkennen, in dem genau dieser Prozess zum Beispiel die traditionellen Parteizugehörigkeiten und deren ideologische bzw. weltanschauliche Verankerungen sehr ins Fließen gebracht hat, für die Kirchen liegt das, hat man es einmal erkannt, auf der Hand. Das ist ein sehr komplexes Geschehen, was sich in der hohen Abstraktheit dieser Ausführungen spiegelt – die Komplexität entsteht vor allem daraus, dass diese Prozesse der Gemeinschaftlichkeit in hohem Maße rückgekoppelt sind und quasi in permanenter Schwingung sich befinden:

"Sie entstehen in einem Praxisfeld, geprägt durch informellen, aber strukturierten Austausch, sind fokussiert auf die Generierung neuer Wissens- und Handlungsmöglichkeiten und werden zusammengehalten durch die reflexive Interpretation der eigenen Praxis. Speziell der letzte Punkt - das gemeinschaftliche Erstellen, Bewahren und Verändern des interpretativen Rahmens, in dem Handlungen, Prozesse und Objekte eine feste Bedeutung und Verbindlichkeit erlangen - macht die zentrale Rolle der gemeinschaftlichen Formationen aus." (Stalder, 136f.)

„Die Konstitution von Singularität und die von Gemeinschaftlichkeit, in der ein Mensch als Person wahrnehmbar werden kann, erleben die Nutzer als gleichzeitige und reziproke Prozesse“ (Stalder,141).

Stalder spricht, aus traditioneller Sicht geradezu ein hölzernes Eisen, von „vernetztem Individualismus“ (Stalder 143) – da ist gerade für Kirche, in der Individualismus immer ein wenig beargwöhnt wird, eine wichtige Beobachtung: „Individualismus und Atomisierung gehen hier nicht mehr notwendigerweise Hand in Hand“ (Stalder, 144). Aus Korporationen, die aus gemeinsamen Überzeugungen und Praktiken (durchaus auch repressiv) zusammengehalten werden, werden „Gefüge“ einer gemeinsamen Performanz, die sich vor allem auch im digitalen Raum ereignet. Deshalb spielt Authentizität als Unterstellung eine wichtige Rolle:

„Das ist der zentrale Unterschied zur klassischen Bürgerlichen Subjektkonzeption. Das selbstverständlich nicht mehr essentialistisch, sondern performativ Verstanden“ (Stalder,143).

Dieses performative Verständnis von gesellschaftlichen Formationen klingt auf den ersten Blick aus einer theologischen Perspektive problematisch – bedenkt man aber die Bestimmung der CA, Kirche sei dort, wo sich Verkündigung und Sakrament ereignen, öffnet sich ein theologischer Pfad auch dazu. Möglicherweise ist „Kirche“ mehr Performanz als Substanz und ihre Konstanz besteht in der permanenten Performanz? Der Digitale Raum jedenfalls funktioniert nach diesem Muster:

„Diese drei Funktionen - Auswahl, Interpretation und konstituierende Handlungsfähigkeit - machen die gesellschaftlichen Formationen (durch Referentialität, RK) zum eigentlichen Subjekt der Kultur der Digitalität“ (Stalder, 151).

Für mich liegt hier die Herausforderung, Bilder von Kirche zu finden, die diese Prozesshaftigkeit und ihre jeweilige Verdichtung in Formationen in den Blick bekommen, ohne entweder statisch-statuarisch zu werden oder Kirche als eine bloße Art „Holding“ permanent sich wandelnder Formationen zu verstehen.

Deswegen ist es so schwierig, dem Phänomen der „digitalen Kirche“ auf die Spur zu kommen: Die einfache Frage, ob eine virtuelle Gottesdienstgemeinschaft überhaupt eine Gemeinschaft ist, ist eben nicht mehr einfach zu beantworten und auch Zugehörigkeit konstituiert sich nicht über eine formelle Mitgliedschaft. Es entstehen situative Gefüge, die sich zu Formationen kondensieren können, wenn sie auf eine gewisse Dauer gestellt werden. Wer ein wenig in den social media in Sachen Glaube, Kirche und Religion unterwegs ist, wird das sofort bemerken, es ist die vielbeschworene und etwas unglücklich so benannte „Blasenbildung“, also Gruppierungen von Followern, die ganz unterschiedlich an den teilnehmen, was „performt“ wird. Und Autorität wird durch Authentizität konstituiert. Hier ist dann auch die theologische Anthropologie gefordert, die ein allzu einfaches und bruchlose Verständnis von Authentizität zu Recht in Frage stellt: Gibt es eine Authentizität der Brüchigkeit, Vulnerabilität und Verstrickung im „Netz“, das auf Selbstdarstellung rekurriert?

Das ist von der traditionellen Paroche, die sich um Personen, Gebäude und Traditionen als präsenzbezogene Organisation gruppiert, ziemlich weit entfernt. Auch die Begriffe der Autorität, der Konvention und der Verbindlichkeit sind davon betroffen. So kann die Ernennung einer „Internetbischöfin“ vor einigen Jahren (auf Instagram) nur als ironisches Zitat, aber zugleich auch ein Versuch von Ermächtigung an den traditionellen Strukturen vorbei verstanden werden. Selbst die Grenzen von Ironie, Zitat und „wirklich so gemeint“ verschwimmen.

An die Stelle von Agenden und Bekenntnissen treten Protokolle, die Zugänge, Partizipation, Einfluss und Aufmerksamkeit regeln, was zum nächsten Punkt, der Algorithmizität, führt und dort weiter vertieft wird. Solche „Protokolle“ sind die regulativen Muster in der digitalisierten Welt, und sie beruhen auf Freiwilligkeit, sie sind die Übernahmen von Interpretationsmustern in einer Formation und legen die Regeln fest:

"Protokolle sind also keineswegs nur auf technischer Ebene vorhanden, sondern strukturieren als interpretativer Rahmen auch Sichtweisen, Regeln und Handlungsmuster auf allen Ebenen" (Stalder, 162).

Sie können in Gestalt subtiler Codes auftreten und auf ihre Weise Ausschluss und Zugehörigkeit regulieren. Die Doppeldeutigkeit des Wortes Protokoll im Deutschen (als Ablaufregeln im streng technischen Sinne, wie etwa das TCIP-Protokoll, aber auch als Verhaltenscodex z.B. im „diplomatischen Protokoll“) kommt hier schön zum Tragen und zeigt selbst in solch scheinbar rein technischen Begriffen die kulturelle Verankerung und die Nähe zum Thema der Macht.

Die Einhaltung dieser Protokolle sind war freiwillig (sofern man überhaupt darauf Zugriff hat), aber sie regeln auch Zugänge. Sie müssen ausgehandelt werden bzw. stellen sich als akzeptiert schlicht durch ihre Nutzung ein. Der „Zustimmungs-Button“ ist der Zugangsöffner.

„Über die Produktion von Differenzen, das heißt über die ständige Veränderung des Gemeinsamen, strukturieren sich diese Formationen intern. Diejenigen, die in der Lage sind, dem Gemeinsamen besonders viel hinzuzufügen, gewinnen an Autorität." (Stalder 163).

Das ist, sehr abstrakt formuliert, unter Anderem das Phänomen der Influencer.

Was damit auch schwindet, und das ist für eine Kirche von besonderer Bedeutung, ist die Differenz von „Innen“ und „Außen“, von Verbindlichkeit und Dauer. Einfach gesagt: Alles ist im Fluß. Der prozesshafte Charakter von „Wirklichkeit“, in der Philosophie schon lange erkannt, wird durch die Digitalisierung für jeden erfahrbar, verunsichert auf der einen Seite, eröffnet Räume auf der anderen Seite.

Damit werden vor allem Aushandlungsprozesse wichtig, das synodale Prinzip ist sozusagen nicht mehr nur auf ausgewählte, berufene und autorisierte Instanzen verlegt, sondern betrifft „Jedermann“. Die alte Grundregel der themenzentrierten Interaktion, „jeder sein eigener Chairman“ wird zum universellen Grundprinzip der öffentlichen Kommunikation, die damit an Steuerbarkeit und Übersichtlichkeit verliert, zugleich aber eine hohe Ausdifferenzierung von Interessenvertretung und Perspektiveneinbringung, von Partizipation und Kollaboration eröffnet. Das protestantische Problem des Nebeneinanders von individualisierten Glauben (sozusagen das „anarchische“ Prinzip) und der Verbindlichkeit von Bekenntnissen und Organisationsformen (das „organisationale“ Prinzip) wird quasi universal. Macht wird nicht mehr über die Zuweisung von Redeerlaubnis verwaltet sondern über Zuschreibung von Aufmerksamkeit und Einfluß. Was reale Machtverhältnisse (z.B. über Ressourcen) durchaus verschleiern kann. Auch die Unterscheidung von Kirche als „Institution, Organisation und Bewegung“ zeigt hier ihren letztlich wirklich nur hermeneutischen Charakter. „Es gibt“ nur Hybride.

Wichtig ist mir an Stalders Begriff der „Formation“ und der durch Referentialität erzeugten Gemeinschaftlichkeit im Rahmen eine Kulturbegriffes, dass hier kein kulturpessimistischer Auflösungsprozess beschrieben wird, sondern eine wirkliche Transformation, die eben neue Formen von Gemeinschaftlichkeit erzeugt, die in, mit und unter den traditionellen (und weiterbestehenden!) Formen von „analoger“ und „körperlicher“ Präsenz bestehen. Wir werden sehen, wie das mit Hilfe der Kategorien von Heidi Campbell für kirchliches Handeln sichtbar gemacht werden kann.