Digitalisierung und die Bilder von Kirche: 2. Auflösung klassischer Duale

Die „funktionale Ausdifferenzierung“ der Gesellschaft , die das klassische Schichtenmodell ablöste und von der funktionalen Systemtheorie schon lange beobachtet und beschrieben wurde, hat gerade für die Kirche entscheidende Auswirkungen, und noch stärker wird das sichtbar, wenn man sich Perspektiven zuwendet, wie sie ihm Rahmen der Ökologie-Debatte entwickelt worden sind. Hier funktionieren nämlich auch die klassischen „Ursache-Wirkung“ und „Innen-Außen“ Duale nicht mehr wirklich. Selbst die daraus entwickelte „Milieutheorie“ hat sich als nicht wirklich tauglich erweisen, sie ist immer noch zu statisch und substanzhaft in ihrem Ansatz, weil sie letztlich von singulären Akteuren ausgeht und von so etwas wie stabilen Lebensweisen und Weltanschauungen.

Das betrifft vor allem die Bilder von Kirche, an denen sich Prozesse der Veränderung und Träume von Bewahrung orientieren, je nachdem, ob man sich einem eher progressiven Lager oder einem eher konservativen Lager zuordnet. Doch es gehört zur Dynamik der digitalen Transformation, dass sie auch solche klassischen Duale auflöst. Das zeigt sich im politischen Feld überdeutlich und gilt eben auch für Kirche (wenn, was mein Verdacht ist, die klassischen Duale hier überhaupt je gestimmt haben und nicht nur ein Firniss war, der die tatsächliche Diversität verdeckt hat. Manfred Josuttis sprach einmal von der prinzipiellen Heterodoxität einer Pfarrkonferenz).

Und das ist für mich die tiefste Dimension dieser Veränderung, und je länger ich mit damit befasse, um so mehr: Die digitale Transformation ist mit dem traditionellen Denken in Dualen, in binären Oppositionen, in baumartigen Strukturen und in linearen Prozessen nicht mehr zu erfassen[. Vor allem die KI-Forschung, die Geflechten von Wahrscheinlichkeiten arbeitet, ist dafür ein eindrückliches Beispiel. Es entsteht eine Komplexität, die auch kompliziert ist. Die digitale Transformation greift hier tief in das Denken ein, sie erfordert ein neues, ein anderes Denken, das sich nicht mehr in solchen Dualen oder linearen Modellen organisiert, und das gilt bis in die fundamentalen Kategorien des Denkens, bis in metaphysische und philosophische Fragen. Für „Eingeweihte“ mag das jetzt eine drittklassige Banalität sein. Aber es erreicht höchst „praktisch“ alle Ebenen von Kirche, und dort walten noch sehr traditionelle Vorstellungen, die zu dem, was geschieht, eben nicht kompatibel sind, was zu Frustration, Verärgerung oder Resignation führt.

Um es ganz einfach zu sagen: Eine Ontologie der „Substanzen“ und „Präsenzen“ (die mit dem Dual von „Eigentlich“ und „Uneigentlich“, von „Sein“ und „Sollen“ operiert) verändert sich in eine Ontologie der Beziehungen und Prozesse, von Abwesenheiten und gleitenden Bedeutungen, die mit statischen Begriffen nicht mehr hinreichend erfasst werden kann. Was in der Philosophie der Neuzeit, vor allem der 20. Jahrhunderts, der Soziologie und der Wissenschaftstheorie letztlich nur einigen Spezialisten und Avantgardisten geläufig war und letztlich auf einer eher abstrakt-akademischen Ebene stattfand (wie jede Avantgarde), wird nun alltägliche Erfahrung: Unsere traditionellen Begriffe und Metaphern funktionieren nicht mehr so richtig, weil sie noch statischen und linearen, hierarchischen und substanzhaften Entitäten (an dem, was „eigentlich“ der Fall ist oder sein sollte), orientiert sind. Wer "Substanz" sagt, sagt auch "Akzidenz", unterscheidet schon zwischen wesenhaften und bloß zufälligen Bestimmungen, erkennt einen vermeintlichen Kern und davon letztlich unabhängige sekundäre Eigenschaften. Schnell wird daraus der Dual des "Eigentlichen" und "Uneigentlichen" oder gar, ins Zeitliche gewendet, des "ursprünglichen", wenn nicht gar "Ewigen" und des "Vergänglichen", wenn nicht gar Verfälschten. Und schon wird aus einer scheinbar abstrakten Debatte ein höchts konkreter moralischer Konstrukt, wenn Forderungen und Träume nach einem "Zurück zu" oder "wir müssen wieder" laut werden, wenn nach dem "Eigentlichen der Kirche" gefragt wird gegenüber dem, was der Kirche bloß uneigentlich ist. Das ist eine metaphyische Falle. So lässt sich Digitalisierung nicht denken: sie ist nicht etwas bloß Äußerliches, dass man auch weglassen könnte. Sie ist ein kultureller Prozess, der nicht nur eine Technisierung der Lebenswelt bedeutet, sondern auch eine massive Veränderung. Der "virtuelle Raum", der "Cyberspace" ist genauso real wie jene Illusionen, die Wirklichkeit genannt werden (und während der Corona-Pandemie sollte doch auch für handfeste sogenannte Realisten deutlich geworden sein, in welche illusionären Räumen wir gelegentlich leben, und wie stark "Cyberspace" und "Kohlenstoffwelt" interagieren. Ein digitales Büro, eine digitalisierte Produktion, ein digitalisierter Wertpapierhandel sind mehr und anderes, als bloß in den digitalen Raum verlegte analoge Prozesse. Deutlich spürt man das alltäglich z.B. beim Verschwinden des Bargeldes. Es kommt zu Überlagerungen und Überschneidungen, es entstehen Prozesse, die man etwas verlegen "hybrid" nennt, es liegen "alte" und "neue" Verfahren nebeneinander, und bei den neuen Prozessen entstehen welche, die gar kein analoges Pendant haben und diesem Sinne wirklich "digital" sind. 

Das betrifft dann auch die Sprache. Einfache "traditionelle" Definitionen, die einen Begriff durch die Kombination von Oberbegriffen und Unterbegriffen erklären, erreichen nicht das, was der Fall ist. Sie kommen sozusagen immer zu spät, weil die Geschwindigkeit der Entwicklungen, die ja ein wesentlicher Effekt der Digitalisierung und Technisierung ist, immer schon dafür sorgen, dass ein Begriff oder eine Metapher überholt ist, bis sich alle darauf geeinigt haben, die „Wirklichkeit“ erleidet hier immer einen "Aufschub" (Jacques Derrida) um mal im Vorgriff einen Leitbegriff dieses neuen Denkens zu verwenden. Wenn ich den Computer einschalte, verlasse ich die Welt der dualen Gewissheiten, ob ich es weiß, oder nicht. Und so, wie die Dinge liegen, ist der "Computer" immer eingeschaltet. Wir sind längst Bewohner einer "digitalen Welt" und bewegen uns in einer "Kultur der Digitalität", die mit traditionellen Begriffswerkzeugen kaum erfasst werden kann: Weil hier, ganz einfach gesagt, permanent etwas geschieht. 

Das erklärt vielleicht auch den Primat der praktischen Theologie in den letzten Jahren, die, vor Fragen der Organisierbarkeit der Kirche und eine angemessenen Organisationsgestalt von Kirche gestellt, auf die Frage nach dem „Wesen“ der Kirche mit einem Modell einer „hybriden Organisation“ geantwortet hat. Kirche ist in diesem Modell ein „Hybrid“ von Organisation (die eher klassisch-hierarchisch als Verwaltung gedacht wird), von Institution (die sozusagen als konsensgetragener Symbolhintergrund einer Gesellschaft gedacht wird) und „Bewegung“, (die als eher informeller Zusammenschluss von Menschen mit gleichen Interessen und Motivationen verstanden wird).

Aber der Begriff des Hybrids hat eine Schwäche, in seinen Untergrund wirkt tendenziell immer noch eine Differenz, die für Kirche typisch ist: die von „eigentlicher Kirche“ und „uneigentlicher Kirche“, oder, wenn auch etwas anders gelagert, von „sichtbarer“ und „unsichtbarer“ Kirche, die sich dann auch in einer Innen-Außen-Differenz spiegelt. "Hybrid" hat immer einen Unterton von Uneigentich, von "Mischung", ganz schnell wird daraus eine "Vermischung". Die Nicht-Dualität zu halten, und nicht in einfache duale Differenzen zu verfallen, das ist die Herausforderung.  Denn Differenzen sind fatal, weil sie schnelle einen moralischen Unterton bekommen, vor allem dann, wenn man, vermeintlich dialektisch, die Differenz meint aufheben zu können. Wer eine „eigentliche Kirche“ imaginiert, z.B. unter dem Logo der „Gemeinschaft der Heiligen“ oder der „Gemeinschaft der Getauften“, die so etwas wie ein Vorgriff auf das Reich Gottes darstellt, auf etwas Ideales, Vollkommenes und letztlich dem menschlichen Zugriff Entzogenes, wird an der realen, der „physischen“, der „sichtbaren“ Kirche immer leiden und das, was der Fall ist, als defizitär, mangelhaft, eben „uneigentlich“ erfahren. Es entsteht eine „eschatologische Differenz“, und hier ist der theologische Austragungsort schon genannt, um den es geht. Wie gehört das der digitale Raum, der Cyberspace, hinein? 

Und solch ein Denken lähmt. Wer von einer „eigentlichen“, „erfüllten“ Partnerschaft träumt, wird mit der realen Partnerschaft, in der er/sie lebt, tendenziell immer enttäuscht sein und seine Wirklichkeit an imaginierten Möglichkeiten messen – und da wird die Wirklichkeit immer den Kürzeren ziehen. Duales Denken und Denken in statischen Begriffen wird dann ideologisch. Damit aber wird man dem, was die Digitalisierung bedeutet, nicht gerecht. Es bedarf einer großen Anstrengung des Denkens, nicht in solche Muster zu verfallen. Sie mögen für den Alltag ausreichen, aber schon eine Komplexitätstufe höher klappt das nicht mehr. Es ist ein wenig wie mit der Newtonschen Physik und der Relativitätstheorie. Das mag jetzt eine Zuspitzung sein, die einen Pappkameraden aufbaut. Nehmen wir es heuristisch und arbeiten wir uns daran ab. 

Der Begriff des Hybrids ist daher, wenn er nicht als Verlegenheitslösung verwendet wird und eigentlich immer Anführungsstriche bräuchte, eher eine Problemanzeige, als eine Lösung. In der Botanik haben Hybride die Eigenschaft, nicht fruchtbar zu sein, aus sich heraus nicht produktiv und entwicklungsfähig zu sein. Möglicherweise ist dieses Modell nicht so tauglich, wie es scheint, jedenfalls dann nicht, wenn man den im Untergrund wirkenden Dual von „eigentlich und uneigentlich“ von Sein und Sollen nicht wahrnimmt. Behält man das im „Hinterkopf“, kann die Rede vom „hybrid“ hilfreich sein. Aber sie bleibt abstrakt, wenn man sie als mehr als eine Problemanzeige versteht. Es gibt andere Möglichkeiten, davon zu reden. Dem möchte ich auf die Spur kommen.