Digitalisierung und Bilder von Kirche: 6. Kultur der Digitalisierung, Stalder/Campbell

 

Digitalisierung und Technisierung der Lebenswelt

Die Digitalisierung ist ein kultureller Prozess, der, darauf weist Armin Nassehi (Muster) hin, zu kurz verstanden wäre, wenn man ihn nur auf die elektronische Digitalisierung beschränkt. Es ist eine Art kultureller Prozess der Informationsgestaltung, der schon mit der Entwicklung der Schrift einsetzte und jetzt, durch die elektronische Technik, nicht nur eine massive Beschleunigung erfährt, sondern auch in alle Lebensbereiche unumkehrbar eindringt. Dieser technische Aspekt ist es möglicherweise, der Digitalisierungsprozesse immer wieder auf typische Widerstände der Technikresistenz stoßen lässt, wie Kartin Passig (Standardsituationen der Technologiekritik) sie herausgearbeitet hat.

Digitalisierung und die Technisierung der Lebenswelt sind jetzt untrennbar miteinander verbunden, und das löst einen kulturellen Wandel aus (oder beschleunigt ihn), der auch für das Verständnis von Kirche und Theologie, von Religion und Glauben von Bedeutung ist. Glaube ist hier verstanden als eine affirmative Haltung gegenüber einer auf Transzendenz ausgelegten Welt (ich formuliere aus Gründen hier so abstrakt, dazu später mehr), Kirche ist die institutionelle und organisationale Gestalt, Religion ist die kulturelle Ausprägung von Glauben, Theologie ist die reflektierende Befassung damit, also mit Kirche, Religion und Glaube, und die Religionswissenschaft hat eine Außenperspektive. Diese rein funktionale Beschreibungen mögen für das Verständnis des Folgenden genügen. Entscheidend ist die Erfahrung, dass alle vier kulturellen Bereiche in der christlichen Tradition wenig technikaffin sind und lange mit den Naturwissenschaften, oder genauer: mit den empirie- und evidenzbasierten Wissenschaften mindestens gefremdelt haben, wenn nicht sogar aus einem antimodernistischen Impuls heraus in offener Gegnerschaft standen.

Es scheint nun so zu sein, dass Theologie und Kirche, Glauben und Religion, ähnlich, wie sie die Industrialisierung im 19. und frühen 20. Jahrhundert letztlich verpasst haben, nun auch bei der digitalen Technisierung unserer Lebenswelt in einer eigenartigen Reserve stehen. Möglicherweise liegt das daran, dass die traditionellen theologischen Begriffe zu vielen Phänomen der technischen Entwicklungen und des damit einhergehenden kulturellen Wandels nicht recht kompatibel sind.

Das ist, um es deutlich zu sagen, nicht nur von Nachteil, weil „Tradition“ nicht nur Erstarrung und – nach Gustav Mahlers Diktum – „Schlamperei“ bedeutet, sondern auch ein kritisches Potential hat. Das allerdings kann sie nur entfalten, wenn es auch andere Begriffe und Bemühungen gibt, das, was gerade geschieht, zu erfassen. Denn die nicht mehr recht passende Kompatibilität traditioneller Begrifflichkeiten zur beschleunigten Moderne zeigt sich auch in anderen Zusammenhängen: Es hat Gründe, dass in den letzten Jahre vor allem die Soziologie zu einer Art Leitwissenschaft geworden ist (neben der immer noch völlig dominanten Physik) und seit der Mitte des letzten Jahrhunderts darum ringt, menschliches Zusammenleben so komplex zu erfassen und auch zur Darstellung zu bringen, dass die Erscheinungen des kulturellen Wandel angemessen ausgedrückt und erfasst werden können um den Preis einer reichlichen komplexen Theoriebildung.

Ähnliches ist auch in der Philosophie zu beobachten, die vor der Aufgabe steht, das „nachmetaphysische Zeitalter“, also das Ende eines naiven Glauben an so etwas wie das Absolute, Letztbegründung oder einheitlichen Urgrund zu reflektieren. Das ist natürlich für eine Theologie, die in – und ich drücke mich hier mit Bedacht schwammig aus – irgendeiner Art und Weise dergleichen voraussetzt, eine große Herausforderung, zumal sich eine christliche Theologie, vor allem protestantischen Zuschnittes, auf einen jahrtausendealten Text und eine ebenso alte Tradition beziehen muss, die aus verständlichen Gründen ohne intensive und komplexe hermeneutische Bemühungen zu diesen Entwicklungen erst einmal wenig zu sagen hat. Die Flucht in Pragmatismus, Fundamentalismus oder einen gewissen unreflektierten Ritualismus kann darauf keine Antwort sein.

Wie dringlich die Aufgabe ist, zeigt sich mir exemplarisch darin, was Jacques Derrida, der vielleicht radikalste „nachmetaphysische“ Philosoph, der sich intensiv auch mit theologischen Fragen befasst hat, bereits 1996 in einem sehr grundlegenden Vortrag über „Religion“ festhielt (Jacques Derrida, Gianni Vattimo; Die Religion, Frankfurt 2001). Ich erlaube mir, das Zitat etwas ausführlicher darzustellen:

„Man sollte nicht leichtfertig, wie im Vorübergehen von dem sprechen, was am ‚heutigen Tag‘ geschieht, ‚zur Zeit‘, ‚in der Welt‘ und ‚in der Geschichte‘, und dabei jenes vergessen, was da geschieht, was unter dem Namen der Religion, ja in ihrem Namen erneut auf uns zukommt und uns immer noch überrascht. Was uns da zustößt, hängt gerade mit der Erfahrung und der radikalen Interpretation dessen zusammen, was all diese Wörter und Begriffe bedeuten sollen: es betrifft die Einheit einer ‚Welt‘ und eines ‚In-der-Welt-Seins‘, die Begriffe der Welt und der Geschichte in ihrer westlichen Überlieferung, in der christlichen oder griechisch-christlichen Tradition, die bis hin zu Kant, Hegel, Husserl, Heidegger reicht, es betrifft auch den Begriff des Tages und den der Gegenwart… Die neuen ‚Religionskriege‘ entzünden sich, wie andere zuvor, auf der menschlichen Erde (die man nicht mit der Welt verwechseln darf) und kämpfen heute darum, den Himmel bis in den letzten Winkel zu beherrschen, mit Finger und Auge: digitales System, virtuell unmittelbare panoptische Sichtbarmachung, ‚Luftraum‘, Satelliten der Telekommunikation, Autobahnen der Information, Konzentration der kapitalistischen Medien-Mächte, kurz und mit drei Schlagwörtern ausgedrückt: digitale Kultur, desk-jet und Fernsehen.“  (41)

Es folgt nun der entscheidende Satz:

„Ohne sie gibt es heute keine religiöse Bekundung; ohne sie wären zum Beispiel die Reisen und Ansprachen des Papstes undenkbar sowie jede organisierte Ausstrahlung jüdischer, christlicher moslemischer Kulte, mögen sie ‚fundamentalistischen‘ Wesens sein oder nicht. Indem sie so geführt werden, geht es in den Religionskriegen, deren Raum und deren Verräumlichung vom Cyberspace abhängen, um eben genau jene Bestimmung von ‚Welt‘, der ‚Geschichte‘ des ‚Tages‘, der ‚Gegenwart‘, die ich oben genannt habe“ (Religion, 42).

Mit anderen Worten: Ohne eine gründliche Reflektion auf den „Cyberspace“, die virtuelle Welt, den elektronisch-digital eröffneten Raum sind eine Theologie, ein Glaube, eine Religion, eine Kirche gar nicht mehr denkbar. Er ist nicht etwas, das zur Welt einfach so „dazukommt“. Er „ist“ die Welt, es ist der Raum, in dem stattfindet, was stattfindet. Die Trennung von „analog“ (das verknüpft mit wertenden Begriffen wie „eigentlich“, „echt“ oder „wirklich“) und „digital“ (verknüpft mit Wertungen von „technisch“, „künstlich“ oder „unecht“) ist nicht mehr nachvollziehbar und wenig hilfreich.

Wie kann man sie überwinden? Wie kann man der digitalen Zivilisation, der digitalen Kultur ansichtig werden und den kulturellen Wandel der letzten Jahrzehnte erfassen, ohne in wertende Kategorien zu verfallen, die einen funktionsfähigen Zugriff eher blockieren und die Frage ideologisieren?

Dazu gibt es seit einiger Zeit sehr eindrückliche Versuche. Im deutschsprachigen Raum hat der Soziologe Felix Stalder mit seinem Buch über die „Kultur der Digitalität“ (Frankfurt, 20215) einen Entwurf vorgelegt, der weitgehend akzeptiert wurde. An seine letztlich sehr griffigen, wenn auch sehr komplexen Begriffe möchte ich anknüpfen, weil sie meines Erachtens auch für das Verständnis von „Kirche“ hilfreich sind.

Für den speziellen Bereich der religiösen Kommunikation, vor allem bezogen auf den Gottesdienst hat Heidi Campbell (nur online: The Distanced Church: Reflections on Doing Church Online (tamu.edu) drei Begriffe entwickelt, die so etwas wie Stadien oder Modi der Digitalisierung beschreiben, die weit über den Gottesdienst hinaus die Dynamik der digitalen Transformation beschreiben. Ihre Kombination ergibt eine Matrix, die helfen kann, die Ungleichzeitigkeit, das Nebeneinander verschiedener Intensitäten und Stadien der Digitalisierung in der Kirche zu erfassen.