Digitalisierung und Bilder von Kirche 8: Referentialität nach Stalder

 Referentialität

Felix Stalder identifiziert als drei Faktoren der Digitalisierung „Algorithmizität“, „Referentialität“ und „Gemeinschaft“.

Mit „Referentialität“ meint Stalder das Herstellen von Bezügen als einer Grundfunktion von Kultur. Sie hat unter der Digitalisierung eine deutliche Beschleunigung und Ausdifferenzierung erfahren und ist geradezu zu einem Motor der Entwicklung geworden, die traditionelle Verständnisse von Gemeinschaft, vor allem solche, die auf Präsenz, auf unmittelbare Gegenwärtigkeit von Akteuren, beruhen, auflöst. Das ist nicht so trivial, wie es auf den ersten Blick klingt. Denn entscheidend ist, dass diese Bezüge aus einer Rekombination von bestehendem Material entstehen und dass das, vereinfacht gesagt, „jedermann“ leisten kann. Es ist nicht mehr – oder weniger als je zuvor – an Institutionen und Organisationen gebunden. Das ist gewissermaßen der eigentlich digitale Anteil daran. Für die Wahrnehmung von „Kirche“ ist das von Gewicht: weil gerade diese Referentialität das Deutungs- und Relevanzmonopol von kirchlicher Lehre und Praxis und von (vermeintlicher) organisationaler Linearität betrifft. Darum werde ich mich im folgenden auf diesen Aspekt von „Referentialität“ beschränken, so verlockend es wäre, hier schon den philosophisch-metaphysischen Implikationen dieses Ansatzes zu verfolgen. 

Einen Wink möchte ich aber schon geben, weil er vielleicht hilfreich ist, den „impact“ dieser Perspektive in den Blick zu bekommen: Das „Digitale“ meint nicht Immaterialität, es konstitutiert nicht eine quasi-virtuelle zweite Wirklichkeit. Sondern: 

„Auch unter den Bedingungen der Digitalitität verschwindet das Analoge nicht, sondern wird neu be- und teilweise sogar aufgewertet (sic! RK). Und da Immaterielle ist nie ohne Materialität, im Gegenteil, die flüchtigen Impulse digitaler Kommunikation beruhen auf globalen, durch und durch materiellen Infrastrukturen, die von den Minen tief unter der Erdoberfläche, in denen Metalle der Seltenen Erden abgebaut werden, bis ins Weltall, wo Satelliten die Erde umkreisen, reichen… ‚Digitalität‘ verweist also auf historisch neue Möglichkeiten der Konstitution und der Verknüpfung der unterschiedlichsten menschlichen und nichtmenschlichen Akteure“. (Stalder, Kultur, 18. Deutlich meine ich ein Echo auf Bruno Latour zu hören). 

Referentialität meint hier vor allem:

„Dabei wird bereits mit Bedeutung versehenes Material - im Unterschied zum sogenannten Rohmaterial - verwendet, um neue Bedeutungen zu schaffen…. Remix, Remake, Reenactment, Appropriation, Sampling, Mem, Nachahmung, Hommage, Tropicália, Parodie, Zitat, Postproduktion, Re-Performance, Camouflage, (nicht-akademische) Forschung, Re-Kreativität, Mashup, transformative Nutzung und so weiter.“ (Stalder, 97).

Dieser Prozess der ständigen Rekombination (des „Sampling“) von bereits Vorhandenem löst alle traditionellen Verankerungen und Bedeutungen auf und generiert ständig Neues, das nicht einfach nur individuell ist, sondern Anspruch auf „Singularität“ (Reckwitz) erhebt. Das geht über das seit dem letzten Jahrhundert etablierte Verfahren der „Collage“ hinaus:

„In den gegenwärtigen referentiellen Verfahren werden die Teile hingegen weniger zusammen- als ineinander gefügt, indem sie verändert, angepasst und transformiert werden…Immer mehr Objekte liegen sowohl in analoger als auch in digitaler Form vor…Das Analoge wird immer digitaler“ (Stalder, 99f).

Referentialität schafft sozusagen permanent neue Welten, die aus dem Bezug auf vorhandene Welten entstehen. Das ist vor allem in den sozialen Medien zu beobachten, greift aber wesentlich tiefer. Es fallen, um es einmal empathisch zu formulieren, alle Grenzen und Schranken bisheriger kultureller Zuschreibungen und Distinktionen: alles ist mit allem kombinierbar, und die Kombination ist mehr als nur die Summe ihrer Teile.

Subjektivität, Persönlichkeit, Originalität und Singularität werden generiert aus ständigem Bezug auf Vorhandenes und Bekanntes – im Ergebnis erscheint das wie ein radikaler Relativismus, der auch scheinbar Unverträgliches in Kontakt bringt.

Ich erinnere mich an eine Kampagne in Bayern, die das schlagkräftig auf den Begriff brachte: „Laptop und Lederhose“. Tradition und radikale Individualität werden so ineinandergeschrieben, dass ihre Differenz sich auflöst, ohne aber vollkommen unverständlich oder esoterisch zu werden (wie z.B. in der Kunst). Stalder verweist dafür auf das Phänomen „Conchita Wurst“, die die traditionellen Geschlechterzuweisungen und die Zuordnungen von Musikstilen an eine bestimmte Kultur rekombiniert (und nicht etwa einfach auflöst) (Stalder, 99).

„Die alten Ordnungen, in denen kulturelles Material bisher gefiltert, organisiert und zugänglich gemacht wurde - Kulturindustrien, Massenmedien, Bibliotheken, Museen, Archive usw. - könnten diesen Strom werde im Kleinen noch im Großen kanalisieren. (Stalder,114)

Es ist kein klassisches Gatekeeping durch Institutionen des Wissens (Medien, Kirchen, Schulen) mehr möglich. Die klassischen Ordnungen des Wissens zerfallen, alles rückt nebeneinander und verweist aufeinander. Alles ist nur eine Suchanfrage entfernt.

"Als Konsequenz lösen sich die einzelnen Objekte aus einer übergeordneten Narration, hergestellt durch Museum oder Archiv, das sie aufbewahrte und ihnen so einen bestimmten Platz in einem größeren Gefüge (sic! RK) und eine mehr oder weniger klare Bedeutung zuwies. (Stalder 115) Aus dieser Unordnung erwachsen für den Einzelnen sowohl die Freiheit, eigene Ordnungen erstellen zu können, als auch die Verpflichtung, eigene Ordnungen erstellen zu müssen, ob er auf diese Aufgabe nun vorbereitet ist oder nicht. (Stalder, 116)

Damit wird vor allem „Aufmerksamkeit“ zu einer Ressource, und das permanente Ringen um Aufmerksamkeit im öffentlichen Diskurs bei gleichzeitiger Auflösung institutionellen Gatekeepings ist eine der Wurzeln dessen, was B. Pörksen „Die große Gereiztheit“ nennt und die sich in der Kirche als große Verunsicherung durch quasi unendliche Diversität niederschlägt. Die alten Narrative tragen nicht mehr, oder besser: Sie tragen nicht mehr allein und werden mit andere Narrativen verbunden: Der gottesdienstliche Segen, der mit „May the force be with you“ endet…

Die fundamentalen Kompetenzen, die jetzt von Akteuren erwartet werden und die permanent  - durchaus stressauslösend - zum Tragen kommen heißen: Auswählen und Ordnen.

"In dieser Situation wird die Erstellung eines eigenen Gefüges (sic! R.K.) von Bezügen zunehmend zur allgegenwärtigen und allgemein zugänglichen Methode, all die ambivalenten Dinge, die jedem Einzelnen begegnen, zu ordnen" (Stalder, 117).

Damit steht auch die klassische Funktion von Kirche und Theologie, nämlich das „Gatekeeping“, das verbindliche gemeinte Vorsortieren von Information und Wissen, massiv in Frage. Und in der Tat wird das wohl kaum jemanden entgangen sein.

Was unter dem Begriff des „Relevanzverlustes“ im innerkirchlichen Diskurs verhandelt wird, hat hier eine ihrer Ursachen. Aus traditioneller Perspektive gibt es ein „anything goes“, dem niemand mit autoritativer Gewalt ordnend Einhalt gebieten kann. Meines Erachtens wird dieser Effekt der Digitalisierung für das, was mit „Kirche“ gerade geschieht, nämlich ihre Auflösung als Institution und ihre Verunsicherung als Organisation, noch zu wenig erfasst.

„Referentialität“ als Grundprozess der Konstitution von Personen und Gruppen hat für die Kirche m.E. einen höheren „Impact“ als die vielbeschworene Bevölkerungsentwicklung oder, nach konservativer Lesart, die Auflösung aller Verbindlichkeit. Referentialität schafft eine neue Form der Verbindlichkeit, und die versucht Stalder mit seinem Begriff der „Gemeinschaft“ oder „Gemeinschaftlichkeit“ zu erfassen. Es ist nämlich keineswegs ein quasi- anarchischer Auflösungsprozess von Gesellschaft und Gemeinschaft, sondern eben eine Transformation. Es entstehen neue, bisher nicht beobachtete Formen von Gemeinschaft, die Stalder darum mit dem Neologismus „Formationen“ benennt.