Digitalisierung und Bilder von Kirche 10: Felix Stalder, Algorithmizität
Algorithmizität
Wie aber nun
Ordnung da hineinbringen? Wie aus der Fülle der Informationen, Performances und
Kommunikationen auswählen, wie sich darin orientieren, wie gewichten,
interpretieren und in Handlungsmuster übersetzten? Da greift der Begriff der „Algorithmizität“,
der vielleicht kraftvollste, aber auch komplexeste Begriff, den Stalder in die
Diskussion einbringt. Er berührt auch die Frage der „künstlichen Intelligenz“,
die uns zu einem späteren Zeitpunkt noch beschäftigen wird.
Der
Ausgangspunkt ist die durch Digitalisierung entstandene Vielfalt und deren Bewältigung
unter Zuhilfenahme von Maschinen. Vertraut ist wohl jeder Internetznutzer mit
den Algorithmen der Suchmaschinen, und wer hier aufmerksam beobachtet, wird
bemerken, wie Sichtbarkeit, Relevanz, Zugriffsmöglichkeiten etc. wie von
Zauberhand im Hintergrund (und oft nur mit hoher Aufmerksamkeit bemerkbar) geregelt
werden. Diese Vorgänge sind so komplex, dass sie auf den ersten Blick zufällig
oder chaotisch wirken. Ein Ort, wo man dem Phänomen besonders begegnet, ist „weil
Sie das und das angesehen haben, interessiert sie vielleicht auch…“, und
dahinter verbergen sich letztlich auch ethische Fragen – der kulturelle Faktor „Algorithmizität“
ist der wirklich kritische Bereich der Digitalisierung, weil sich hier Fragen
von Transparenz, Partizipation und Steuerbarkeit besonders deutlich stellen,
letztlich ist es dieser Faktor, der hinter den beiden andren Faktoren am wirken
ist, es ist der „maschinellste“ Aspekt. Ich will versuchen, das im Folgenden
für unsere Fragestellung ein wenig zu sortieren.
Stalder
dazu:
"Referentielle Verfahren in gemeinschaftlichen
Formationen schaffen durch persönliche Kommunikation unterschiedlich große und
umfassende Zonen der Kultur. Sie breiten sich in den Leerstellen aus, die durch
die Erosion etablierter Institutionen und Verfahren zur Produktion von sozialer
Bedeutung entstanden sind, und nun, da sich neue Verfahren etablieren,
verschärfen sie diese Erosionsprozesse noch zusätzlich…die dadurch etablierten
Strukturen sind zunächst nur für die aktiven Teilnehmer verbindlich." (Stalder,
164).
Algorithmen
sind nun dazu da, sich darin zurechtzufinden. Der Begriff stammt aus der
Mathematik und der aus ihr entwickelten Kybernetik, hat aber inzwischen
Karriere gemacht und beschreibt jede Form von automatisiertem, rhythmisiertem und elementarisiertem Prozess (womit er in eine eigentümliche Nähe zum Ritual, das
man auch als einen Algorithmus beschreiben kann, gerät). Stalder:
"Ein Algorithmus ist eine Handlungsanleitung, wie
mittels einer endlichen Anzahl von Schritten ein bestehender Input ein einen
angestrebten Output überführt werden kann" (Stalder, 167)
Dazu bedarf es dreier Determinanten:
Schritte müssen einzeln und gesamt vollständig beschrieben,
sie müssen praktisch durchführbar sein,
die Handlungsanweisung muss mechanisch ausführbar sein. (Stalder,
168)
Ein sehr
einfacher „Algorithmus“ wäre zum Beispiel ein Kochrezept oder ein
Computerprogramm. Für die hier aufgeworfene Fragestellung ist dabei vor allem
ein Aspekt von Bedeutung: Algorithmen helfen bei der Auswahl und Strukturierung
von Informationen, am einfachsten zu begreifen bei Suchmaschinen. Die bieten ja
auf eine Anfrage hin nicht einfach alle verfügbare Informationen, sondern
bereiten sie auf der Basis komplexer Operationen für den jeweiligen Nutzer, auf
der Basis seines bisherigen Verhaltens, als optimierte Suchergebnisse zu.
Algorithmen können auch komplexe Verwaltungsabläufe vereinfachen, indem sie
Routinen übernehmen (so gibt es bereits Algorithmen, die einfache Rechtsfälle
lösen können, denn juristische Urteilsfindung läuft in weiten Bereichen sehr
schematisch ab), und in der breiten Diskussion bekannt sind die Algorithmen,
die es braucht, um autonom fahrende Autors zu programmieren. Inzwischen sind
Algorithmen in der Lage, sich selbst fortzuschreiben, also zu „lernen“, und
damit Prozesse selbstständig zu optimieren. Hier ist die Überschneidung mit der
„künstlichen Intelligenz“ zu finden.
Keine Frage,
dass hier, noch viel stärker als bei den beiden anderen kulturellen Faktoren „Referentialität“ und „Gemeinschaftlichkeit“, durchaus berechtigte Vorbehalte
entstehen, denn es deutet sich an, dass es Algorithmen geben wird, die in einem
mehr als trivialen Sinne „kreativ“ sind und zum Beispiel Texte oder Musikstücke
generieren.
Es
verschieben sich die Grenzen von „dem, was als kreativ, und dem, was als
mechanisch verstanden wird“ (Stalder, 176). Algorithmen erzeugen oder erkennen
(eine Frage der Perspektive) Ordnungen, wo der gemeine Menschenverstand nur
Chaos sieht: Die vermeintliche Unordnung, das "Chaos" der Daten ist
aber keines, es ist nur eine Form der Ordnung, die eine Fülle von Potential
möglicher Ordnungen enthält.
„‚Unstrukturiertheit' bedeutet nicht einfach die Abwesenheit
jeglicher Struktur, sondern die Präsenz einer anderen Art von Ordnung, einer
Metastruktur, einer Ordnungspotenz, aus der sich zahllose konkrete Ordnungen ad
hoc generieren lassen" (Stalder 183).
Auch wenig
philosophische Gemüter werden hier eine gewisse Beunruhigung spüren, denn dieser
Gedanke greift sehr tief in das ein, was wir als „Welt“ verstehen und als
„präsent“ wahrnehmen, ganz im Sinne des eingangs zitierten Gedankens von
Derrida (Digitalisierung und Bilder von Kirche: 6. Kultur der
Digitalisierung, Stalder/Campbell (theodenkt.blogspot.com).
Die Angst,
die Computer könnten die Herrschaft übernehmen und die Welt in einen digitalen
Spuk verwandeln, hat hier, nicht ganz unbegründet, ihre Wurzeln. Das verschärft
sich noch, wenn die Entwicklungen zur künstlichen Intelligenz weiter
voranschreitet und immer mehr bewußtseinsähnliche Prozesse automatisiert
werden. Bewußsteinsähnlich deswegen, weil das englische Wort „Intelligence“
immer noch einfache Datenverarbeitung meint und nicht den im Deutschen
missverständlichen Unterton von „Selbstbewußtsein“ hat, das wäre „artifcial
mind“, und davon sind wir noch sehr weit entfernt. Insofern muss man dieser
Stelle aufpassen, nicht in eine sprachliche Falle zu treten, die Ängste an der
falschen Stelle erzeugt.
Theologisch
kommen wir hier sehr nah an grundlegende Fragen heran, die ich einmal provokativ
einfach stellen möchte: Sind Algorithmen Geschöpfe oder legen sie so etwas wie
Grundstrukturen der Schöpfung frei – und wie verhält sich die Algorithmizität
(also die letztlich mechanisch-mathematisch Struktur der digitalen Welt) zur
Welt überhaupt? Noch radikaler: Beschreibt Gen 1,1 – 2,4a so etwas wie einen
grundlegenden Algorithmus oder so etwas wie die „Algorithmizität der Welt“? Die
alte theologische Frage nach den Schöpfungsordnungen und Determinismus kommt
hier auf einer wesentlich komplexeren Ebene wieder und wird z.B. von Theologien
des „Intelligent Designs“, also des szientistischen Fundamentalismus, durchaus
positiv beantwortet.
Das klingt
spekulativ, ist aber nach meiner Einschätzung eine theologisch relevante Frage,
weil dahinter natürlich die Frage nach der Freiheit steht, denn Algorithmen
determinieren Prozesse (oder sind Ausdruck dafür, dass Prozesse schon immer
determiniert sind)? Diese kleine Abschweifung, der vielleicht nicht so einfach
zu folgen ist, soll nur verdeutlichen, dass die Befassung mit der digitalen
Transformation für die Kirchen keineswegs eine nur rein organisational- institutionelle
Frage darstellt. Sie greift tief in grundlegende Fragen ein, für die die
Tradition kaum tragfähige Begriffe bereitstellt. Stalder, durchaus sensibel für
diesen theologischen Aspekt, formuliert: "Von Algorithmen erstellte
Ordnungen werden immer stärker darauf ausgerichtet, dem individuellen Nutzer
seine eigene, singuläre Welt zu schaffen" (Stalder,189). Und ganz
pointiert: "…Suchmaschinen beschreiben die Welt nicht nur, sie bringen sie
auch hervor" (Stalder, 194). Das ist, wenn man so will, angewandter
Konstruktivismus. Wie verhält sich das zur Freiheit?
Davon ist
auch der Begriff der Macht betroffen.
Hinter
Algorithmen verbirgt sich „Netzwerkmacht“:
„Dass der Einzelne sich freiwillig dieser Macht unterordnet,
ist typisch für Netzwerkmacht, die keine Anweisungen gibt, sondern
Voraussetzungen konstituiert“ (Stalder, 199).
Macht und
Einfluss haben also etwas mit Sichtbarkeit, Auffindbarkeit und
Orientierungsgewissheit zu tun. Das berührt Kirche sehr unmittelbar:
"Außer in rasch schrumpfenden Domänen des Spezial-oder
Alltagswissens kann die Welt immer weniger ohne vorsortierende Mechanismen
überblickt werden. Die User können die Sucherergebnisse einzig pragmatisch
daraufhin beurteilen, ob sie helfen, ein konkretes Problem zu lösen. Dabei
steht nicht die beste Lösung oder die richtige Antwort im Vordergrund, sondern
eine, die verfügbar und gut genug ist. Das verleiht den Institutionen und
Verfahren, die die Lösungen und Antworten liefern, einen enormen Einfluß"
Auch wenn
das jetzt sehr abstrakt und kompliziert klingt, berührt es nur die Oberfläche
von dem, was Stalder mit seinem Begriff der „Kultur der Digitalisierung“ meint.
Ich habe es so ausführlich gebracht, weil er im Grunde ausführt, was Derrida 1996
formulierte: Kirche und Glauben, Religion und Theologe sind ohne
Digitalisierung nicht mehr denkbar, weil Digitalisierung, aus einer
traditionellen Perspektive formuliert, Entgrenzung und Verflüssigung bedeutet,
und zwar sowohl der „Inhalte“ also auch der Strukturen, weil Digitalisierung auch Machtstrukturen, vor allem hierarchische, auf Zuschreibung und Kompetenz
beruhende, verändert und über die neuen Formen der Gemeinschaftlichkeit auch neue
Formen von Partizipation und Transparenz (bei gleichzeitiger Verschleierung
ihrer Wirkmacht) generiert.
Wie lässt
sich Kirche als Prozess denken, wie lässt sich Glaube als Vertrauen und
Orientierung, wie lässt sich Religion als kulturelle Äußerung denken, wie lässt
sich Theologie als Reflektion und Lehre denken, wenn alles im Fluß ist? Sind
nicht gerade Glaube, Kirche, Theologie und Religion auf Stabilität,
Verbindlichkeit, Stetigkeit und Kontinuität ausgerichtet und mit ihrer
Ausrichtung auf etwas „Absolutes“ der völligen Auflösung der Welt in
„Netzwerke“ konträr? Das erinnert an Karl Barths Diktum, die Aufgabe der Theologie
sei es, den Vogel im Flug zu beschreiben.