Digitalisierung und Bilder von Kirche 11: Heidi Campbell. Transferring, translation, transforming
Heidi Campbell: Digital Church. Transferring, translation, transforming
Das wird
deutlicher, wenn wir mit Heidi Campbell auf das blicken, was Digitalisierung im
Raum von Religion und Kirche nun praktisch bedeutet. Das hat sie in einem
kleinen, aber wegweisenden Essay entfaltet (Heidi A. Campbell, What Religious
Groups Need to Consider when Trying to do Church Online Heidi A Campbell, in:
Dies. The Distanced Church. Reflections on Doing Church Online, 2020, 49-52 , Distanced Church-PDF-landscape-FINAL version.pdf (tamu.edu),
nur online greifbar).
Wie
geschieht, was da geschieht? Wie gestaltet sich die „Kultur der Digitalisierung“
konkret in kirchlichen Vollzügen?
Es war die
Coronapandemie, die kirchliches Handeln geradezu ruckartig in die digitale Welt
verlegte und eine Fülle von Fragen erzeugte, die vorher nur einem kleinen Kreis
von Spezialisten zugänglich waren. Was geschieht, wenn wir einen Gottesdienst oder
seelsorgerliche Aktivitäten in den digitalen Raum verlegen? Campbell
identifiziert drei Stadien oder drei Schritte, in denen das geschieht, und wie
sich zeigen wird, lässt sich das nicht nur auf den Gottesdienst, sondern auf das
gesamte kirchliche Handeln (Seelsorge, Unterricht, Organisation und Verwaltung)
beziehen. Mein Schwerpunkt ist dabei die digitale Kollaboration, also der
organisationale Aspekt, und weniger das pfarramtliche Handeln, soweit man das
trennen bzw. unterscheiden kann.
Sie stellt fest, dass es sozusagen drei Modi oder Stadien der Digitalisierung kirchlichen Handelns gibt: transferring, tanslation und transforming.
Tranferring („Übertragung“) meint: Ein analoges Geschehen
wird z.B. per Livestream oder per Aufzeichnung im Netz zugänglich gemacht. Während
der Pandemie geschah das oft in sehr reduzierter Weise, aber immer so, dass
das, was praktiziert wurde, nun einer abwesenden Gemeinde zugänglich gemacht
wird, dabei war diese konkrete Gemeinde auch die Zielgruppe.
„Many church leaders filmed themselves in empty sanctuaries,
alone, or with a few assistants singing psalms, offering calls and responses to
liturgical readings, and staring close range into the camera while broadcasting
a sermon to their members. Their goal seems to be to offer members a somewhat
similar worship service but in the safety of their own homes.“ (Cambpell, 51)
Eine
irgendwie kreative Auseinandersetzung mit den digitalen Medien oder dem
digitalen Raum ist dazu nicht notwendig, es müssen nur technische Fragen und
Fragen der Performanz geklärt werden. Das ist im strengen Sinne noch kein
„digital“ gedachtes Handeln, noch nicht einmal wirklich „medial“. Es ist
„Abfilmen“, und sie fand diese Form der medialen Darstellung vor allem in den
traditionellen Kirchen und Denominationen. Im Bereich der Kollaboration wäre
das sozusagen der Gebrauch des Computers als Schreib- und Speichermaschine, als
reines Medium: Print – digital – Print, also immer noch im wesentlichen papierorientiert.
Es ist sozusagen „Internet 2.0“.
Translation (mit „Übersetzung“ nicht passgenau
im Deutschen wiederzugeben, vielleicht passt „Überführung“ hier am besten)
meint: Auf die Bedingungen und Möglichkeiten der medialen und digitalen
Übermittlung wird gestalterisch Rücksicht genommen. Das betrifft vor allem die
gesteigerten Möglichkeiten der Interaktion sowohl der Akteure also auch des
„Publikums“ und die Ausweitung dieses Publikums. Die Akteure
„seemed to translate their worship experience into more of a
talk show format, where a pastor served as a host introducing the worship band
as if they were musical guests and cuts to church leaders interviewing other
staff members about their thoughts on the current pandemic and what a Christian
response might look like“. (Campbell, 51f).
Das fand sie
vor allem in „nonedenominatial and interdenominational“ Kirchen, bei uns würde
man eher von Freikirchen sprechen, die ohnehin schon weniger den traditionellen
Formen von Gottesdienst verpflichtet sind. Hier wird also eine weniger rituell-darstellende und mehr auf Kommunikation angelegte Form der gottesdienstlichen
Feier letztlich auch nur ins Netz übertragen, dabei aber die Möglichkeiten etwa
von Chat oder Kommentar via social media genutzt, sodass die Teilnehmer „Draussen
an den Bildschirmen“ mehr Teilnahmemöglichkeiten haben, was auf die Gestaltung
zurückwirkt. Im kollaborativen Bereich bedeutet das vor allem die Nutzung von
Videokonferenzen mit gleichzeitiger kollaborativer Arbeit, die aber letztlich auch
wieder in einem analogen Produkt ohne digitale Anschlussverfahren endet.
Beide Formen
haben gemeinsam, dass sie keine genuin digitalen Ausdrucksformen darstellen und
kein wirklich „digitales mindset“ widerspiegeln, das digitale Medium wird
tatsächlich nur als medium genutzt, in dem sich die ohnehin üblichen Formen
gemeinschaftlichen Tuns spiegeln.
„These strategies of transferring or translating church are
services that mirror or modify specific aspects of normal worship practices.
Their aim seemingly was to replicate the core aspects of Christian
worship—singing, scripture reading, and preaching—in easily identifiable ways.“
(Campbell, 51)
Sie greifen
sozusagen nicht in die Substanz des Geschehens ein und sie beziehen sich auf
bereits vorhandene Communities und Zielgruppen. Das ist, mit Stalder
formuliert, noch eine sehr niedrige Stufe von Referentialität und
Gemeinschaftlichkeit. Wenn man so will: Internet 3.0, mit stärker Interaktion.
Das ändert
sich beim dritten Aspekt, den sie „transforming“ (Verwandlung“) nennt.
„I saw church leaders appearing to use the shift to online as
an opportunity to rethink the essence of the church—what do members
need—and transforming their worship services accordingly. Here, the
standard “praise and worship sandwich”—joyful praise songs followed by an
emotional sermon and then reflective worship music—was abandoned for more of a
“fireside chat model.” The pastor or senior ministers sat on couches as if they
were having a conversation with their members, offering honest reflection on
their own struggles with the pandemic situation and creating a dialogue between
themselves and their members, asking members to share their prayer requests and
thoughts in real time via social media or texts during and after the broadcast
service.“ (Campbell 51)
Hier werden
also traditionelle Formen der Verkündigung oder des Rituals vollständig
verlassen und in etwas Eigenes, so nur digital Mögliches überführt. Das
verändert das komplette Setting und den Habitus, es entsteht eine digitale Form
kirchlichen oder religiösen Handelns, die wirklich neu und innovativ ist und
keine analoge Analogie hat. Das wäre dann "Internet 4.0". Im kollaborativen
Bereich würde das bedeuten, dass die Verwaltungs- und Organisationsprozeduren
komplett im digitalen Traum stattfinden mit intensiver Verzahnung von Textproduktion,
Bearbeitung und Finalisierung, Termin- und Aufgabenmanagement unter Nutzung der
vorhandenen Tools: das vollständige, papierlose digitale Büro bzw. die
vollständig digitalbasierte Verwaltung, die dann auch ganz eigene Formen der
Interaktion und Kommunikation entwickelt, unter Einbeziehung aller zur
Verfügung stehenden „Devices“ (Smartphone, Tablett).
Im Laufe der
Pandemie war es auf einigen Youtube- und Instagramm-accounts sehr spannend zu
beobachten, wie sich die Formen wandelten. Ein Video mit einem geistlichen
Impuls wird eingestellt, Menschen kommentieren – oft unter Avataren, also gar
nicht identifizierbar. Über „hashtags“ wurden Themen vernetzt, es entstanden
Videos oder „Memes“, die antworteten. Mit der Zeit kamen auch andere Formen der
Darstellung zum Vorschein, unter Nutzung von Filtern, Schnittprogrammen, Texteinblendungen,
Musik wurde unterlegt oder in Karaoke-ähnlichen Formen „performt“, d.h. die
technischen Möglichkeiten veränderten die Performanz. Text-sheets, sogenannte
Memes (also digitale Spruchkarten) tauchten auf, die Bibelverse oder Gedanken
visualisierten und zum Diskurs einluden. Über die Möglichkeit von Verlinkung
und dem Setzen von Hashtags oder dem „taggen“ anderer Netzteilnehmer über das
@-Zeichen wurde die dadurch Rezeption freilich immer weniger nachvollziehbar (Ein
Aspekt, den Stalder unter dem Begriff der Referentialität abhandelt). Hier spielen
vor allem die social media eine Rolle, aber es wäre eine Verkürzung, diese
Entwicklung nur unter diesem Aspekt zu betrachten.
Und eine
genuin digitale Form des „Gottesdienstes“ entstand, wenn in Gemeinden oder
Gemeinschaften von Einzelnen kleine clips mit Gebeten, Lieder, Gedanken oder
kleinen Szenen „gedreht“ wurden, die dann zu gottesdienstähnlichen Videos
zusammengeschnitten wurden, für die es gar keinen passenden Begriff wird, eine
Art liturgische Bricolage („Bastelei).
„Transforming“ meint also tatsächlich: Produktion von „religiösen“ Beiträgen in einem genuin „digitalen“ mindset, das sich von traditionellen Vorstellungen vollständig gelöst hat. Es wird sehr interessant werden, wie diese genuin digitalen Formen nun auch die traditionellen Formen verändern.
Campbell
bezog das einzig auf den Gottesdienst, aber diese Dreistufigkeit lässt sich z. B.
beim Religionsunterricht oder Konfirmandenunterricht im digitalen Raum erkennen:
Vom einfachen Abfilmen eines publikumslosen Unterrichtsgeschehens (also
translation) (das gab es tatsächlich!) über z.B. powerpoint- oder einspielergestützte
interaktive Gestaltung von Feature- ähnlichem Unterricht bis hin zu Unterricht,
der mit digitalen Tools gestützt war, also etwa Actionbound, Geocaching,
Panel-Quizes oder gar komplexe, an Computerspiele erinnernde Aufgabengestaltung
für einzelne oder Gruppen (transforming). In der Seelsorge ist die Sachlage
komplexer, aber auch hier deuten sich mit Aktionen wie dem „Digitalen Haus der
Seelsorge“ sozusagen „Tranforming“-Methoden der individuellen Begleitung an,
die mehr sind als ins Digitale verlegte Telefonseelsorge.
Und
schließlich gilt diese Dreistufigkeit auch für das organisationale Handeln, das
ich noch einmal darstellen möchte, weil ich das für eine besonders wichtige und
einschneidende Entwicklung halte, die starke organisationale Folgen haben wird,
in den verschiedenen Formen des „Homeoffice“ konnte man davon schon eine Ahnung
bekommen. Während ich festzustellen meine, dass im Moment der Abfassung, Juli
2022, unter dem Eindruck der vermeintlich abklingenden Pandemie die gottesdienstlichen
und unterrichtlichen digitalen Formen wieder verschwinden und es eine Tendenz
gibt, alles wieder analog zu gestalten, wird die digitale Erfahrung im
kollaborativen Bereich bleiben und sich noch weiterentwickeln.
Transferring
meint dann hier: Sitzungen finden in gewohnter Form als Videokonferenz statt,
Verwaltungsprozesse werden computergestützt abgewickelt („Computer als
Schreibmaschine), Dateitransfer findet über email statt usw.
Translation
geht einen Schritt weiter: Etwa in der gemeinsamen Kalendernutzung, dem gemeinsamen
Zugriff auf Dateien, der gemeinsamen Auftragsverwaltung etc, d.h. digitale
Ressourcen werden zu Vereinfachung und Koordinierung von Verwaltungsvorgängen
genutzt, die sich aus der Notwendigkeit von Homeoffice oder nicht möglicher
Arbeit in Präsenz ergeben („Computer als Workstation“).
Transforming hingegen ist mehr als das: Es ist die vollständige Verlegung von Arbeit in den digitalen Raum, es entstehen vollständig papierlose digitale Büros, es wird mit digitalen Tools zur Konsensgewinnung gearbeitet, Prozesse werden zeitlich entzerrt oder in Echtzeit gestaltet, Teamzugehörigkeiten kontinuierlich oder kasuell mit entsprechenden Zugriffsrechten definiert, also das volle Programm digitaler Kollaboration. Das „digitale Mindset“ zeig sich dabei vor allem darin, dass nicht mehr das Arbeiten in Präsenz als der „Normalfall“ vorausgesetzt wird, sondern dass andersherum auch Arbeit in Präsenz mit den digitalen Tools stattfindet: In Meetings wird an Texten am geöffneten Bildschirm gearbeitet, Protokolle in Echtzeit verfasst (eventuell sogar vom Vortragenden selbst), dazu gehören auch alle Formen der hybriden Zusammenarbeit. Dieser Aspekt der Digitalisierung wird Kirche m.E. mehr verändern, als alle anderen: Die völlig neue Arbeitskultur wird völlig neue Strukturen erzeugen, etwa in der Zusammenarbeit von (räumlich und zeitliche getrennten) mulitprofessionellen Teams, gerade im Bereich der „mittleren Ebene“, die als „Kooperationsräume“ oder „Erprobungsräume“ bereits jetzt die klassische Paroche übergreifen, aber zugleich keine Gebilde eigener ekklesiologischer Relevanz sind – vorerst noch.
Wenig nachvollziehbar weil im wesentlichen "unsichtbar" ist die Nutzung digitaler Tools in der Gemeindearbeit, etwa im Bereich der Kirchenvorstandsarbeit, der Gruppen und Kreise oder des Community-Buildings durch Messengerdienste und andere social media, hier werden die Contoc-Studien (Church in the time of Corona) sicherlich mehr Licht in das Dunkel des administrativen Nebels bringen.
Schwindende
Ressourcen werden absehbar dazu führen, dass solche volldigitalen Arbeitsformen
an Bedeutung gewinnen. Die anstehenden Kirchenreformen werden ohne grundlegende
Digitalisierung der sog. "Verwaltung" wenig zielführend sein. Das heißt, dass wir
uns auch auf dieser Ebene mit einer Veränderung des Verständnisses von „Präsenz“
arbeiten müssen - und das muss auch theologisch reflektiert werden.
Das zeigt
sich jetzt schon in der etwas schwammigen Begrifflichkeit zur Beschreibung des
Phänomens: Digitale Kirche – Kirche digital – digitalisierte Kirche – sich digitalisierende
Kirche.
„Digitale Kirche“ ist dabei der umfassende Begriff, der im Grunde den Prozess des transforming reflektiert und die Existenzweise der Kirche als ganzer betrifft: Virtualität wird dabei die Normalform von Kirche werden.
„Kirche digital“ meint
eher das mit translation und transferring Gemeinte: Kirche findet auch
im digitalen Raum statt. Digitalisierte Kirche verweist auf das möglich Ergebnis,
„Sich digitalisierende Kirche“ den Prozess und seine prinzipielle, der technischen
und gesellschaftlichen Entwicklung geschuldete Unabschließbarkeit, eine für Verwaltungen
mit ihrer auf Kontinuität und Beharrung angelegten Logik nicht leicht zu
denkende Entwicklung. Alle drei lassen sich als Formen von Gemeinschaftlichkeit unter den Bedingungen von Referentialität verstehen.
Tatsächlich wird es so sein und wohl auch noch lange so bleiben, und das ist wichtig zu bemerken, dass sich diese Formen von Kirche überlagern, es wird zu Ungleichzeitigen kommen, die der Diversität von Kirche ein entscheidendes Moment hinzufügen und schlicht „auszuhalten“ sein werden. Ich halte diesen Prozess für wenig steuerbar, weil er hochkomplex ist. Er hängt von Kompetenzen und Ressourcen, vom Stand des digitalen „commitments“ und dem Willen zur Digitalisierung ab – dazu gehören auch die von Katrin Passig herausgearbeiteten Widerstände gegen technische Innovationen (Kathrin Passig - Standardsituationen der Technologiekritik) und natürlich der Datenschutz und die Datensicherheit. Hier trägt das von Stalder entwickelte Programm der „Kultur der Digitalisierung“ am meisten bei und hat seinen stärksten Impact. Es ist deutlich, dass es hier neuer (zusätzlicher?) Bilder von Kirche bedarf, und diese Überlegung war auch der Anlass, das in diesem Text zu versuchen.
Der im Moment intensiv bedachte „hybride Charakter“ von Kirche (Institution, Organisation, Bewegung) bekommt hier noch eine weitere Dimension: Analog, Digital, Hybrid (im Sinne eines Ineinander von Digitalem und Analogem, wobei zu bedenken ist, was Stalder zur Auflösung dieser Differenz sagt). Dies wird m.E. sichtbar, wenn man die Campbellschen Begriffe in das Raster von Stalder einträgt. Dann werden auch die Pole von Beharrung und Innovation sichtbar, Elemente von Disruption (bei aller Vorsicht im Gebrauch dieses Begriffes) und emergenter Phänomene, für die passende Begriffe allererst werden gefunden müssen, wenn ich recht sehe.