Digitalisierung und Bilder von Kirche 14: Die drei Stufen und die Algorithmizität

 

Die drei Stufen und die Algorithmizität

Transferring- also die einfache Verlagerung analoger Prozesse - erzeugt digitale Abbilder der analogen Prozesse. Die eigentlichen Möglichkeiten der digital gestützten Arbeit werden kaum genutzt: Der Computer als Schreibmaschine, die email als Post-Ersatz, der abgefilmte Gottesdienst. Dahinter steht implizit eine Vorstellung, dass die analogen Prozesse die „eigentlichen Prozesse“ sind und das Digitale letztlich nur ein „neues Medium“ ist, in dem sie stattfinden. Damit wird die gesellschaftliche Wirkung von Digitalisierung als Kulturprozess fast vollständig ausgeblendet. Die kritische Frage lautet dann oft „Brauchen wir das wirklich?“ –  und es entsteht nicht so etwas wie ein „digitales mindset“, das eben nicht einfach  „überträgt“ und „übersetzt“, sondern von vornherein digital denkt und digitale Lösungen findet. Damit ist nicht gesagt, dass das immer geschehen muss – aber es muss den Akteuren klar sein: ein bloßes „Abbild“ der „Realität“ ist keine wirklich digitale Lösung. Das kann seinen Ort und seine Berechtigung haben. Aber auf dem Weg zur Digitalisierung ist das nur ein Schritt.

Im Transferring repräsentieren digitale Verfahren also bloß analoge Prozesse, ohne die Rückwirkung des technischen Verfahrens zu berücksichtigen oder damit zu rechnen. Der kulturelle Aspekt der Algorithimizität – also des Datenbasiertheit unsere modernen Lebenswelt und deren Automatisierung - wird ausgeblendet.

Ein schönes Beispiel zu Veranschaulichung mag die Entwicklung der Eisenbahn liefern: Zu beginn wurden einfach Kutschen auf gleiskompatible Gestelle gesetzt. Es entstanden abgeschlossene Einzelabteile. Erst in einem langen Prozess entwickelten sich über die „Abteile“ in einem Waggon, die durch einen Seitengang verbunden waren, die Großraum-Waggons, die nun nicht mehr die bisherige Praxis einfach abbilden, sondern etwas Neues darstellen, das so nur unter den technischen Möglichkeiten der Eisenbahn möglich ist. Man kann hier den Weg vom „transferring“ (Kutschen auf Waggon-Gestellen: Abbild) über die „translation“ (Abteile im Waggon: Permutation) zum transforming (Großraum-Waggons: Innovation) verfolgen und sieht, dass die Kombination des technischen Verfahrens mit der ihm innewohneden Algorithmizität, die einen Entwicklungsdruck freisetzte, zu einer genuinen „Eisenbahn- Lösung“ führte, die nun als echte Innovation erscheint und die Erinnerung an die Kutsche als Ursprung völlig auslöschte. Das waren Emergenzsprünge, und es dauerte seine Zeit, bis die Großraumabteiles Akzeptanz erfuhren. Und wie zu sehen ist, gibt es immer noch Abteile selbst in den modernsten Entwicklungen der Bahn. Die drei Stufen lösen sich nicht einfach ab, sondern sie existieren nebeneinander. So sind die Abteile immer noch sinnvoll, weil sie abgeschlossene Räume anbieten, die z.B. für gemeinsames Arbeiten oder für Familien sinnvoll sind. Die „Innovation“ des Großraumwaggons hat die alte Kutsche nicht einfach abgelöst, sondern integriert und ihr eine neue Funktion zugewiesen.

Das zeigt den sogenannten „Sailingship-Effekt“:

„Als im 19. Jahrhundert die Dampfschifffahrt aufkam, sahen sich die Hersteller von Segelschiffen in ihrem Geschäftsmodell bedroht. In der Folge entwickelten sich als Antwort auf die dampfgetriebene Konkurrenz zahlreiche technologische Verbesserungen, die die Marktfähigkeit der Segelschiffe über lange Zeit erhielten. Dies führte dazu, dass der Umstieg der Handelsflotten von Segeln auf Dampfkraft, der zunächst auf wenige Jahre vorhergesagt worden war, sich tatsächlich um die 120 Jahre hinzog.“ Sailing-Ship-Effekt – Wikipedia

Das heißt: Die leistungsfähigsten Segelschiffe wurden gebaut unter dem Innovationsdruck des Dampfschiffes – eine Zeitlang gab es auch Hybride, die beide Techniken zu vereinigen suchten. Interessant ist, dass unter dem Vorzeichen der effektiven Nutzung von regenerativen Energien eine Abwandlung des windgestützten Schiffsantriebes entwickelt wird, die die Windenergie nicht mehr direkt zum Antrieb nutzt, sondern mit Windturbinen Elektrizität erzeugt, die als Unterstützung des Dieselmotors, der die Dampfmaschine ablöste, benutzt wird. „Transferring“ ist also keineswegs eine Art „defizitärer“ Modus, sondern hat seine eigene Berechtigung und kann zu eigenen Innovationen führen, quasi als ein "Residuum" des alten und Bewährten in einem komplett neuen Kontext. Man wird auf analoge und quasi-analoge Verfahren nicht verzichten können, schon allein unter der Perspektive eines Stromausfalles...

Übertragen auf Verwaltungsprozesse wären das die Schritte hin zur vollständigen digitalen Kollaboration oder zur Entwicklung rein digitaler Kommunikations- und Ausdrucksformen. 

Innovation entsteht, wenn die Algorithmizität, also die innere Logik digitaler Prozesse als Bearbeitung immenser Datenmengen, zum Ausgangspunkt der Entwicklungen genommen wird und nicht einfach versucht wird, analoge Prozesse abzubilden, wenn also wirkliches "Transforming" stattfindet. Der Weg dahin geht nicht allein über Planung, sondern hat einen hohen Anteil von „Versuch und Irrtum“, er kann nur funktionieren, wenn eine Fehler- und Lernkultur entwickelt wird, die Ermergenzphänomene nicht als Störungen, sondern als Entwicklungsschritte wahrnimmt. Das bedeutet, das technische Lösungen und Verwaltungsaufgaben ständig rückgekoppelt werden. 

Das meint rein praktisch, dass im Grund in jeder Abteilung oder in jedem Team ständige Evaluations- und Entwicklungsworkshops gibt. Das ist nicht allein die Aufgabe einer IT-Abteilung. Denn in jeder Verwaltungseinheit laufen spezifische Prozesse, die über zentralisierte Verfahren nicht erreicht werden können. Um die Phänomen der Algorithimizität (die rasante Komplexitätsteigerung der Datenbasis) "einzufangen“, braucht es Zeit und Raum sowie Experimentierfreude, aber eben auch eine Lösung von dem Modus: „analoge Prozesse ins Digitale verwandeln“. Das Ziel muss sein, von vornherein digitale Prozesse zu entwickeln. Das erfordert nicht nur "Know-How", sondern eine Einstellungsveränderung.

Das zeigt sich deutlich in der Möglichkeit digitaler Kollaboration in Echtzeit, die kein wirkliches analoges Pendant hat und tatsächlich völlig neue Arbeitsmöglichkeiten erzeugt. Und das bedeutet, dass die ständige Erweiterung der Kompetenz jedes einzelnen Akteurs eine der Hauptaufgaben einer Verwaltung bzw. einer Organisationsführung bei der Inkulturation des Digitalen ist. Um den Weg vom der bloßen „transferring“ über das „translation“ zum transforming zu gehen, braucht es Zeit und Raum zum Experiment, es gibt viele Zwischenstufen.

In der EKKW versuchen wir das unter anderem dadurch, dass wir allgemeine „Standards“ der digitalen Kooperation formuliert haben, die als solche nicht die Prozesse selbst beschreiben, sondern so etwas wie ein kritisches Minimum geteilter Verfahren, auf deren Basis Organisationsabteilungen und Teams ihren spezifischen Weg der Digitalisierung entwickeln können, ohne sich aus dem allgemeinen Kommunikationszusammenhang zu lösen. Es versteht sich, dass die Standards eingeübt und ständig überprüft werden müssen, und dass diese Entwicklungen permanent kommuniziert werden müssen. Es ist eine Frage des Comittment, der gegenseitigen institutionellen Verpflichtung und Identifikation mit der Aufgabe.  Rein praktisch bedeutet das: Es müsste in jeder Abteilung oder in jedem Teams speziell dafür ausgebildete und permanent weitergebildete „Key-User“ oder Digitalbeauftragte geben, die sich auch untereinander abstimmen. Digitalisierung ist nicht „nebenbei“ zu erledigen. Sie ist eine Kernaufgabe in jedem Team, egal, womit es befasst ist und egal, auf welcher Organisationsstufe.

Gerade hier zeigt sich die Digitalisierung auch als eine Führungsaufgabe: Die Aufgabe von Führung und Leitung muss sein, diese Räume und Zeiten zur Verfügung zu stellen und nicht zu erwarten, dass Mitarbeitende das „irgendwie von selbst“ herausbekommen. Das wird nur dazu führen, dass die drei Stufen der Prozesse unbeobachtet und damit wirklich völlig unsteuerbar nebeneinander herlaufen. Das würde dazu führen, das jede Abteilung und jedes Team im Grunde so etwas wie einen „digitalen Dialekt“ entwickelt, der im schlimmsten Fall dazu führen kann, dass die so entwickelten digitalgestützten Prozesse nicht mehr zueinander kompatibel sind und vor allem Innovationen als Emergenzprozesse gar nicht recht sichtbar werden – mit dem Effekt, dass das Rad ständig neu erfunden werden muss und Akteure abgehängt werden. Es entstehen quasi digitale „tribal cultures, wie man sie z.B. bei der Frage des Betriebssystems (DOS-basiert, Linux, IOS) recht einfach  beobachten kann. Solche Tribalisierungen kann eine Organisation, deren Hauptaktivität und deren Zweck Kommunikation ist, nur begrenzt zulassen.   Im Bereich der „digitalen Kirche“, also der digitalen Verkündigung, lassen sich solche Tendenzen zur Tribalisierung, gestützt auf den Grad der Digitalisierung, durchaus beobachten, weil es hier nicht nur um Teambildung geht, sondern auch um Gemeindebildung.

Das aber ist ein teures Verfahren, das die Komplexität in einer Weise erhöht, die nicht mehr überschaubar ist. Deutlich ist damit auch, dass eine rein linear-hierarchische („Pyramide“) oder diffus „organische“ („ein Leib, viele Glieder“) Organisationsform das nicht leisten kann, sondern dass es andere innere Bilder davon braucht, wie die Organisation tatsächlich funktioniert. Gerade an diesem Punkt zeigt sich, wie Digitalisierungsprozesse die gesamte Arbeitskultur betreffen und traditionelle Verständnisse von Organisation sich wandeln.

„Innovation“, die entsteht, wenn echte „Transforming-Prozesse“ stattfinden, kann also nicht ein „Ziel“ sein, sondern eher so etwas wie ein Anspruch und eine Prüfaufgabe. Wenn meine Beobachtungen zur Überlagerung von Algorithmizität mit den drei Stufen einigermaßen plausibel ist, dann ist „Innovation“ vermutlich an vielen Stellen wegen des Emergenzeffektes schon da und muss nur erkannt und auf ihre Anwendbarkeit auf anderen Gebieten überprüft werden. Das Neue kann nicht nur beschworen werden, es muss entdeckt werden. Vermutlich sind viele kluge und brauchbare Lösungen, die sich von der bloßen Abbildung analoger Verfahren in den digitalen Raum (und damit der Erweiterung von Möglichkeiten effektiver Zusammenarbeit) gelöst haben, schon längst vorhanden.

Das zeigt, in welchem Maße eine Kultur der Digitalität vor allem und zuerst eine Kultur der Kommunikation ist – denn anders ist die ungeheure Datenfülle, in deren Hintergrund die Prozesse der Algorithmizät laufen, nicht zu bewältigen. Kommunikation ist langsam, teuer und riskant. Es ist völlig verständlich, dass eine Verwaltung bzw. eine Organisation sich damit schwertut, weil sich damit eine Vielfalt öffnet, die sich erst in einem langen evolutionären Prozess wieder vereinfacht. Darum müssen Reformen gerade im Bereich der Kirche auch konkrete Verwaltungsreformen sein, die nicht nur die Entwicklung von Prozessen und Verfahren betrifft, sondern eine Veränderung der Grundhaltung hin zu mehr Eigenverantwortung und Selbstwirksamkeit der Akteure auch in „informellen“ Gruppen. Hier die richtige Balance zwischen Freiheit und Regulierung zu finden, ist die große Herausforderung, wenn die Digitalisierung nicht bei einem bloßen „transferring“ stehenbleiben soll, die der kulturellen Veränderung nicht gerecht werden kann und dazu führen kann, von gesellschaftlichen Entwicklungen abgehängt zu werden. Wirklich Innovation kann nur dort stattfinden, wo man sich vom transferring löst und über translation zum transforming vorstößt. Es entsteht auch eine neue „Gemeinschaftlichkeit“.