Digitalisierung und Bilder von Kirche 13: Die Gleichzeitigkeit der kulturellen Prozesse und die Wirklichkeit 1. Die drei Stufen und die drei kulturellen Faktoren.
1. Die Gleichzeitigkeit der kulturellen
Prozesse und die Wirklichkeit
Die drei Stufen und die drei kulturellen Faktoren
Das, was der
Fall ist, liegt nicht einfach vor Augen, denn zum Teil werden hier
Emergenzphänomene beschrieben, die nicht vorhersehbar, schwer planbar und
tatsächlich oft auch schwer identifizierbar sind. Emergenzphänomene, die durch
Überlagerungen von Prozessen und Handlungen entstehen, wirken oft kontingent,
sind aber natürlich „kausal“ verursacht, auch wenn die Kausalkette schwer
rekonstruierbar ist. Das, was der Fall ist, ist verborgen, aber nicht so, dass
man davon schweigen sollte, sondern eine Offenheit dafür entwickelt, dass durch
Emergenz Tatsachen und Sachverhalte „erscheinen“ – nicht aus dem Nichts,
sondern aus komplexen Ereignisfolgen.
Diese
Dynamik ist vielleicht die entscheidende Veränderung, die durch die Entwicklung
der Technik überhaupt, durch die Entwicklung der elektronisch gestützten Datenverarbeitung
aber entscheidend beschleunigt und „verkompliziert“ wurde, auch wenn sie spätestens
durch den Buchdruck schon in Gang kam. Man könnte vielleicht sagen, dass die
Digitalisierung die Entsubstanzialisierung der Ontologie vorangetrieben hat.
Diese ontologischen Aspekte sollte man nicht unterschätzen, weil sie für die
Theologie besonders starke Implikationen hat. Denn wo „Emergenz“ statfindet,
hat man es mit autopoietischen (oder, wie später noch zu erläutern sein wird,
mit „sympoietischen“) Prozessen zu tun. Dahinter stehen direkte Anfragen an
eine Schöpfungstheologie, die mit „naiven“ Präsenzbegriffen im Dual von
Anwesenheit/Abwesenheit oder offenbar/verborgen arbeitet. In der oben
entworfenen Matrix nimmt diese „Substanzialität“ von oben an unten ab und die „Virtualität“
steigt. Im Grunde ist die entscheidende Frage, wieviel „Welt“ man der „Virtualtität“
zugesteht und wie sehr man, andersherum, die „analoge“ Welt als letztlich
ebenfalls rein datenvermittelt virtuell versteht – und was mit dieser Differenz
geschieht, wenn man sie ineinanderschreibt: sie löst sich auf und gerät ins Gleiten.
Mir ist der
hochabstrakte und vorläufig noch etwas spekulative Charakter dieser Gedanken durchaus
bewusst, deswegen möchte ich diesen Aspekt noch ein wenig ausführen, auch wenn
ich hier auf dünnem Eis gehe.
Digitalisierung
stellt in Frage, was mit „Welt“ und „Wirklichkeit“ gemeint ist. Vermutlich ist
das einer der Gründe, warum sich Kirchen mit der Digitalisierung als
kulturellem Prozess besonders schwer tun. Er nagt auch an den ontologischen
Grundannahmen über das, was „Präsenz“ ist. Das ist besonders deutlich unter dem
Aspekt der Algorithmizität zu erkennen, weil die automatisierte (und sich
zunehmend selbst automatisierende!) Organisation von Daten einen immer größeren
„Schleier“ erzeugt, der bis zum Eindruck des Chaotischen gehen kann. Aber auch
der subjektonstiuierende Charakter der Referentialität (mit seiner Auflösung
des traditionellen Begriffes von „Subjekt“ und „Gemeinschaft“) stellt hier
elementare Fragen nach der Wirklichkeit, wenn sich alles in Emergenzphänomene „auflöst“
und in punktuelle Ereignisse und Singularitäten "verwandelt" (transformiert).
In
Organisationen ist Emergenz Normalität, auch wenn es ihr Bestreben ist, sie
gerade zu verhindern. Emergenzphänomene sind es zumeist, die als „Störungen“
erscheinen, der klassische Kommentar heißt dann: „Das hat ja keiner ahnen
können“. Dabei meint Emergenz nicht automatisch Kontingenz: Emergenz geht aus
- oft erst im Rückblick erkennbaren - Rahmenbedingungen hervor, die rational
rekonstruierbar sind, aber eben nicht einfach prognostizierbar. Das ist ein
Element des Chaotischen, das sich allerdings nicht dem Zufall verdankt,
sondern der unüberschaubaren Komplexität. Das ist im Raum der „digitalen Kirche“
vor allen in den sozialen Medien sehr deutlich zu erkennen.
Emergenz und
Kontingenz zu verwechseln ist durchaus bedenklich, weil es entweder zu
Fatalismus führt oder zu jener Form von Hysterie, die sich von der plötzliche
Erscheinung des Neuen erschrecken lässt. Zugleich hilft der Begriff der Emergenz,
einen allzu zuversichtlichen Gebrauch des Begriffes der „Innovation“ und seines
(vermeintlichen) Schattens, der „Disruption“ zu verhindern. Hier braucht es
eine gewisse Gelassenheit und ein Vertrauen darauf, das chaotische Prozesse gelegentlich
einfach nur komplexe Prozesse sind. Das klingt banal, trivial ist es aber
nicht.
Denn daran
zeigt sich, wie sehr eine Kultur immer auch eine Kultur von Erwartungen ist.
Gerade hierarchisch-baumartig gestaltete „heroische“ Organisationen, die sich
selbst als stringent und im hohen Maße verwaltbar erleben und beschreiben,
neigen dazu, diese Phänomene zu marginalisieren oder gar zu stigmatisieren. Oder
sie reagieren mit Einrichtung von Stabsstellen, um die Befassung möglichst aus
der Linie herauszuhalten – das kann eine richtige Strategie sein, wenn man Raum
und Zeit lässt für Emergenz. Der Steuerbarkeit sind hier Grenzen gesetzt, weil
die Eigendynamik der Technologieentwicklung mit hineinspielt, deren Akteure
nicht einfach auszumachen sind – Gerade die Suche nach „Verursachern“ oder gar
nach Schuldigen ist da wenig zielführend.
Die Matrix
nun, mit der ich schon einige Zeit arbeite, hat mir geholfen, nicht nach „Schuldigen“
zu suchen, sondern in einer Art phänomenologischer Epoché zu fragen: Was ist
hier der Fall? Was geschieht hier? Wie konnte es dazu kommen?
Die
Digitalisierung nun erzeugt im hohen Maße Emergenzphänomene, die sich auch der
klassischen Steuerung entziehen (man denke nur daran, welche Verwirrungen die
plötzliche Notwendigkeit des „Homeoffice“ und der damit verbundenen
Verschiebung des Begriff der Präsenz am Arbeitsplatz und deren
Kontrollierbarkeit erzeugte). Digitalisierung ist nicht primär auf dem
Verordnungs- und Erlasswege zu gestalten. Es ist ein Prozess der Inkulturation
– der schon einmal Generationen dauern kann und oft an unerwarteten Orten stattfindet.
Die Erwartung: Hier ist die Hardware, hier die Software, hier ist der Prozess
und „los geht’s“ - wird immer enttäuscht werden, da der gesamte Prozess an
technisch-materielle Entwicklungen geknüpft ist, die eine Geschwindigkeit und
eine Komplexität erreicht haben, die sich der Wahrnehmung einzelner entziehen
und immer nur als Effekt auftreten, die das Ergebnis komplexer
Kommunikationen sind.
„Die Evidenz der Wirklichkeit wird gebrochen, ohne dass man
auf die Idee kommen könnte, dass das, was hier interveniert, weniger wirklich
wäre“ (Dirk Baecker, 4.0 oder die Lücke, die der Rechner lässt, Berlin 2018,
19.).
Interessant
ist, dass Baecker hier etwas Quasi-religiöses am Werk sieht, das die
Aufmerksamkeit von Theologie wecken sollte:
„Niklas Luhmann hat bereits die Faszination notiert, die jenen
Bildschirmen und Displays gilt, hinter denen ‚unsichtbare Maschinen‘ ihr Werk
verrichten. Nur zwei Vorbilder gibt es für diese Faszination, das Verhältnis
der Oberfläche divinatorischer Zeichen zur Tiefe göttlicher Absichten in der
Religion und das Verhältnis einer ornamentalen Oberfläche zu einer dem
Verständnis verschlossenen Tiefe in der Kunst. Und sicherlich profitieren die
elektronischen Medien von diesen beiden Vorläufern. Unser Verhältnis zu den
Displays der Rechner ist eines der religiösen Inbrunst und des ästhetischen Genusses,
auch wenn wir die Götter nicht benennen können, an die wir glauben, und dass
das Design nicht durchschauen, das uns so erfolgreich in seinem Bann hält“ (Baecker,
4.0, 21).
Damit zeigt
sich, dass „Digitalisierung“ offensichtlich ein Prozess ist, der nicht mit technokratischen
Modellen allein beschreibbar und bewältigbar ist, sondern den Charakter einer
hermeneutischen Kunstlehre enthält, auf die Baecker mit dem Begriff der Divination
ja auch explizit anspielt:
„Die volle Gestalt der Hermeneutik ist als Kunstwerk zu betrachten,
aber nicht, als ob die Ausführung in einem Kunstwerk endigte, sondern so, daß
die Tätigkeit nur den Charakter, der Kunst an sich trägt, weil mit den Regeln
nicht auch die Anwendung gegeben ist, d.i., nicht mechanisiert werden kann“
(Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, Frankfurt, 1977, 81).
In diesem
Sinne möchte ich die oben entwickelte Matrix verstanden wissen: Als ein Werkzeug
der Divination, um Prozesse in den Blick zu bekommen, die sich nicht einfach auf
den ersten Blick aus ihren Voraussetzungen erkennen und erklären lassen. Was
hier so „spekulativ“ erscheint, hat divinatorischen (damit irrtumsfähigen) Charakter.
Und das führt in die Dialektik (als Kunstlehre des unendlichen Gesprächs offener
Fäden im Schleiermacherschen Sinne, nicht im Sinne Hegels, wo es sozusagen
immer um die nächste Stufe geht – eine solche wird es im Prozess der Digitalisierung
nicht geben, weil sich die Prozesse überlagern und nicht einfach „aufheben“).
Das setzt
vor allem eine hohe Bereitschaft zum Lernen und eine gewisse „Verblüffungsresistenz“
voraus. Viel mehr noch als bei der papiergestützten Verwaltung sind Prozesse
und Abläufe ständigem Wandel unterworfen, und viel mehr noch als bei
papiergestützten Prozessen, die relativ schnell eine gewisse stabile Routine
entwickeln, verändern sich die Prozesse im Prozess selbst, weil sie zeichengestützt
und schriftbasiert sind, aber eben nicht als "Papier" materiell werden:
„Erstmals wird für jedermann erfahrbar, was Philosophen schon
seit längerem unter dem Stichwort der ‚Schrift‘ notieren. Es gibt keine Kommunikation,
die nicht laufend Anleihen nimmt. Es gibt keine Kommunikation, die in innerhalb
einer bestimmten Materie (sic! RK) stattfindet. Es gibt keine Kommunikation,
die nicht in dem Moment, in dem sie zustande kommt, bereits abgelenkt wird von
dem, was sie möglicherweise beabsichtigt. Es gibt keine Kommunikation, in der
nicht etwas anderes mitkommuniziert. Und wenn das so ist, kann man auch auf
Geister und Götter, Tiere und Pflanzen, Dinge und Ereignisse nicht nur als
Anlässe und Themen von Kommunikation, sondern auch als Adressaten und Partner
Rücksicht nehmen. Entscheidend ist, dass ein Sinn identifiziert wird, der entsprechend
zugerechnet werden kann….Die Evidenz de Wirklichkeit wird gebrochen, ohne dass
man auf die Idee kommen könnte, dass das, was hier interveniert, weniger wirklich
wäre“ (Baecker, 4.0., 19).
Damit
formuliert Baecker, was in den diversen Programmen der sogenannten „Postmoderne“
schon lange vorgedacht wurde. Es geht aber nicht darum, was immer der Vorwurf
an diese Denkmodelle ist, „alles zu relativieren“ und auf einen konsistenten
Begriff von Wirklichkeit und Wahrheit zu verzichten. Das entscheidende Merkmal
der Digitalisierung ist die Ungleichzeitigkeit und die Überlagerungen von Wirklichkeiten
und Wahrheiten, die vor allem aus der ungleich vorhandenen Kompetenz der
einzelnen Akteure und deren technischer Ausstattung beruht.
Die Matrix
beschreibt also nicht so etwas wie eine Entwicklung oder einen Fahrplan. Sie
will eher das Bewusstsein dafür wachhalten, das Ineinander der Prozesse wahrzunehmen
und auszuhalten und Verständigungsprozesse zu eröffnen. Sie ist, wenn man so will,
selbst ein Algorithmus, Prozesse zu verorten, ein hermeneutischer Algorithmus. Und
als solche ein Modell, das vermutlich schon im Verlauf der Betrachtung sich ändert.
Das, was J. Derrida sehr abstrakt als „gleitenden Signifikanten“ beschreibt,
der ein einfaches Zugreifen auf so etwas wie „Wirklichkeit“ vollständig in Kommunikation
auflöst (vereinfacht gesagt), wird hier sehr konkret. Das Phänomen der Digitalisierung entzieht sich
in dem Moment, wo man es gesehen hat. Wenn das nicht eine theologische Herausforderung
ist….
Denn auch
die für eine Organisation wichtige Unterscheidung von „Innen“ und „Außen“, von „System“
und „Umwelt“ gerät dadurch in Bewegung. Dirk Baecker hat das in seinem Ansatz
des „postheroischen Managements“ sehr deutlich beschrieben:
„Postheroische Führung findet dort statt, wo eine Übersetzung
des Aussens in das Innen oder umgekehrt des Innens in ein Aussen nicht möglich
ist und diese Unmöglichkeit in immer wieder neue Strategien und Taktiken der
Auseinandersetzung umgesetzt wird. Postheroische Führung ist daher nicht nur
situativ, inkrementalistisch und improvisiert, sondern auch in der Hinsicht
prozessorientiert, dass immer wieder neu überprüft wird, mit welchen Ideen,
Diagnosen, Kompetenzen und Ressourcen man unter welchen Umständen welche
Erfahrungen gemacht hat“. (Microsoft Word - Postheroische_Führung_Dirk_Baecker.docx
(bbb-beratungen.ch); ausführlicher in: Dirk Baecker, Postheroisches Management. Ein Vademecum, Berlin, 1994).
Damit
erscheint „Digitalisierung“ vor allem als Führungsaufgabe – nicht nur in der „Spitze“
einer Organisation, sondern auf allen Ebenen in einer Art fraktalem in sich
rekursivem Prozess. Kein Einzelner kann entscheiden, und wenn, dann höchsten
formal. Das ist die Herausforderung. Die oben entworfene Matrix versucht, diese
Fraktalität zu erfassen: Sie ist permanent auch auf sich selbst anwendbar und kommt auf allen Ebenen einer Organisation zum tragen. Das macht
Digitalisierung zur einer aus organisatorischer Sicht höchst aufwändigen
Angelegenheit, die nicht en passant zu erledigen ist, weil ein Geflecht von
menschlichen und nichtmenschlichen Akteuren (ein „Gefüge“) am Werk ist. Es geht
um Verständigungsprozesse, Kommunikation, Metakommunikation und Kommunikation
über die Metakommunikation, um die Prozesse sichtbar zu machen, um überhaupt
eine Chance zu haben, sie zu verstehen und zu gestalten. Das stellt lineare
Organisationen vor große Herausforderungen.
Das klingt
sehr abstrakt. Vielleicht hilf ein Durchgang durch die Matrix, hier etwas
deutlicher zu werden.
Schauen wir
zuerst, was geschieht, wenn die von Campbell beschriebenen Stufen der
Digitalisierung unter der Perspektive der Algorithimiztät betrachtet werden.