Sprechen

 Meine These sei erinnert: Die Digitalisierung bedeutet für die Kirche einen größeren Wandel als alle anderen Faktoren, die gerne genannt werden. 

Ein Element: 

Wer darf sprechen? Für eine demokratische, partizipative und freiheitliche Gesellschaft ist die Antwort klar: jeder. Freilich nicht jeder zu jeder Zeit, an jedem Ort und zu jedem Publikum. Das wird geregelt über Institutionen, die die Machtausübung durch Sprechen (und darum geht es) regeln. In der Kirche schlägt sich das, weil es hier noch einmal um ein ganz anderes Sprechen geht (jedenfalls in ihrem Selbstverständnis) in der Praxis der Ordination nieder. Sprechen darf, wer ordiniert ist. Das war lange Zeit gebunden an bestimmte Fähigkeiten des Lesens und Schreibens. 

Dabei sollte man das, was mit dem allgemeinen Priestertum der Getauften gemeint ist, nicht vorschnell eintragen: Das meint ja erst einmal nur, dass alle Getauften ermächtigt sind, das priesterliche Amt auszuüben: Sündenvergebung und Versöhnung zuzusprechen ist nicht mehr das Privileg einer wie auch immer definierten geweihten Priesterkaste. 

Über die faktische Ermächtigung zum öffentlichen und exemplarischen Reden im Auftrag der Kirche ist damit noch nichts gesagt. Es geht nicht um allgemeines Pfarrertum. Aber unter dem Eindruck dieses theologischen Gedankens hat sich das vollmächtige Sprechen seit  der Reformation demokratisiert in Richtung: Wer darf das Sprechen bewerten? Da kam die Gemeinde ins Spiel, vorgestellt als eine Gruppe kompetenter Sprecher und Hörer (und immer mehr auch Lesender, ein Prozess, den die Reformation nicht zuletzt auch deswegen vorantrieb). Damit schlägt sich protestantische Ekklesiologie nun seit Jahrhunderten herum: Wie soll das aussehen? Man entschied sich für repräsentative Formen der Rede über die Rede, Presbyterium, Kirchenvorstand, Kirchenbehörde. Das alles geriet immer mehr ins Rutschen, und der Pietismus war die erste große Bewegung, die das Privileg des ordinierten Redens nicht nur Frage stellte, sondern auch unterlief. Bei Schleiermacher, dem reformierten (!) Herrenhuter höherer Ordnung  haben wir dann schon den Umlauf der Selbstbewußtseins-Gefühls-Gedanken als Schmieröl von Kirche. Das alles aber immer noch in einem Kreis von letztlich irgendwie privilegierten (im Wortsinn: Vom Gesetz her vorzüglich ausgestatteten) und kompetenten (Kompetenz als Zurechnung, nicht als Fähigkeit) Sprechenden/Hörenden (mit Derrida natürlich: sich Einschreibenden). 

Und nun? Das ist die Situation der Gutenberg-Epoche, die freilich, wie sie immer deutlicher zeigt, so analog nicht war, wie es manche gerne hätten. Das Digitale (die Zerlegung von kontinuierlichen Prozessen sind prozedural angelegte Elemente) wirkte auch hier schon. Das ist inzwischen ziemlich common sense. Ich rede jetzt also von der elektronischen Digitalisierung, die Elektrifzierung des "Sprechens". 

Sie ermöglicht nun, ich kürze ab, dass jeder zu jeder Zeit an jedem Ort zu jedem sprechen kann. Die institutionelle Ermächtigung (als Kompetenz und Privileg) wird immer fragwürdiger. Das Aufkommen der künstlichen Intelligenzen im Bereich der Textproduktion legt zudem den maschinellen Aspekt von Textproduktion frei, der ein rein ästhetisch-künstlerisches, auf Ingenium, Studium und Inspiration sich berufendes Sprechen doch sehr in Frage stellt (jedenfalls dann, wenn man den grundsätzlich maschinell-digitalen Charakter von Sprache als Schrift (nochmal Derrida) nicht kennt). 

Das Privileg der Kanzel fällt. Überall ist Kanzel, und jeder kann jederzeit reden. Im Grunde der alte protestantische Traum. 

Nur, was heißt unter diesen Bedingungen: Kirche ist, wo das Evangelium in rechter Weise verkündigt wird? Das Wort wandert in den digitalen Raum und wird nomadisch (Deleuze). 

Was ermächtigt zur Ermächtigung? 

Wir sehen, was das im politischen Raum macht. Für die institutionelle Kirche, die als sprechende Organisation in Erscheinung tritt, ist das der eingreifendste Kulturwandel überhaupt. Die Folgen sind kaum absehbar - aber die Plausibilität einer institutionell abgesicherten Rede sinkt. Was bleibt, ist die öffentliche Rede als gemeinschaftstiftendes Ereignis. Aber das geschieht auch im virtuellen Raum: dafür braucht es keine Präsenz. Die ist, wie ich oben entfaltet habe, ja selbst prekär geworden (oder in ihrem prekären Charakter durch den aufschiebenden Charakter der Schrift erkennbar geworden). 

Wer darf reden? ist keine angemessene Frage mehr. Und damit stellt sich die Frage nach dem "Amt". Und die ist der Kern traditioneller Kirchlichkeit, auf ihr beruht die Kirche als Institution und Organisation. Der Rest ist aber eben nicht schweigen, sondern unendliches Geplapper. Wo ereignet sich Christus zwischen Bits und Bytes? Das Smartphone ist Kirche und Kanzel in der Hosentasche. Digitalisierung macht Hierarchien (heiligen Herrschaften) ein Ende.  Was tritt an ihre Stelle? Ein unendlicher Chor. Das kannte man bisher nur im Himmel, wo die Engel ohne Unterlass Gott loben, preisen und verkündigen. Die Digitalisierung hebt diese Grenze auf - und damit Kirche als Repräsentation des Himmels auf Erden. Transzendenz und Immanenz fallen zusammen der Virtualität. Was für eine Organisation kann dem entsprechen? Die alte Frage der natürlichen Theologie (zeigt sich Gott in Natur und Geschichte) bekommt eine neue Variante: technische Theologie. Haben wir die Werkzeuge, das zu begreifen? 

Das meine ich, wenn ich sage: die Digitalisierung stellt Kirche viel substantieller in Frage als Demographie, Pluralismus, Individualismus und was als Pappkameraden dergleichen durch Mitgliedschaftsuntersuchungen und Prognosen schwirrt. 


Es geht um die Frage des ermächtigten Sprechens: denn der Glaube kommt aus dem Hören. Wie schreibt sich Gott ins Digiale ein - und wie wird er dort "lesbar"? 

Bleibt die Frage der Sakramente, der Präsenz. Anderes Thema, zu anderer Zeit. Da da wird es nicht viel anders aussehen. Wird ein Youtube-Video durch den Sprechenden konsekriert?